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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Perioden der Stilgeschichte.VI. Geschichte des lateinischen Stiles. Wie ganz und gar unsere landläufige Betrachtungsweise des Lateinischen die Sprache zugunsten der „Schreibe“ ignoriert, kann nichts deutlicher zeigen als die jedermann bekannten Benennungen „goldene“ und „silberne Latinität“. Sie beziehen sich einzig und allein auf den Stil, und für diesen geben sie allerdings eine richtige Unterscheidung und auch Wertung zweier Perioden. Wir verstehen unter der goldenen bekanntlich das Latein der ciceronischen und augusteischen Zeit, unter der silbernen seine Entwicklung im weiteren Verlauf des 1. Jahrhunderts nach Chr. und wenig darüber hinaus, im ganzen eine Zeit von nicht 200 Jahren. Wer also einen vollständigen Überblick über die Geschichte des lateinischen Stiles haben will, muß die Einteilung rückwärts und vorwärts ergänzen. Was der goldenen Latinität vorausliegt, pflegen wir als die archaische zu bezeichnen; was auf die silberne folgt, werden wir weiterhin einigermaßen zu gliedern versuchen.

Erste literarische Zustutzung des Lateins.I. Archaische Latinität. Eine Sprache mag selbst auf den Höhepunkten menschlichen Durchschnittslebens so leicht sich bewegen, wie wir es vorhin die lateinische haben tun sehen – sie wird doch, ehe sie zu großen literarischen Zwecken tauglich wird, noch vieler Zustutzung und Vervollkommnung bedürfen. Das Latein hat das Glück gehabt, wenigstens im Beginn seiner Poesie gleich sehr energische Zuchtmeister zu finden. Es brauchte solche um so mehr, als mit der Formung der poetischen Sprache die Einführung der griechischen Versmaße an Stelle des einheimischen ungefügen und ganz verschieden gearteten saturnischen Metrums Hand in Hand ging. Weitaus die schwierigsten Aufgaben stellte hier der Hexameter, Epische Poesie.und an ihm und mit ihm hat sich die römische Dichtersprache im wesentlichen ausgebildet, indem, was zunächst für den Hexameter geneuert war, mit der Zeit auch in die anderen Versmaße überging. Ennius.So ist Ennius, der bald nach dem zweiten Punischen Kriege, also nach 200 v. Chr. den Hexameter ins Latein einführte, der Vater des poetischen Stiles bei den Römern geworden. Da die eigentümliche Abfolge von Länge und zwei Kürzen, wie sie dieser Vers fordert, im Latein nicht allzu häufig ist, so bedurfte es mancher Neubildung, mancher Wiederaufnahme veralteter Worte, mancher syntaktischen Kühnheit z. B. in der Wortstellung, manches starken Gräzismus, um dem Mangel abzuhelfen. Ennius ist in diesen Dingen zum Teil sehr weit gegangen – begreiflich, da er sich selbst allein Maß und Regel sein mußte. So hat er sich nicht gescheut, die homerische Genetivendung -oiŏ, die schön klang und gut in den Hexameter paßte, einfach herüberzunehmen und italischen Namen aufzupfropfen, obwohl die Römer nichts auch nur von fern Anklingendes besaßen. Dergleichen barocke Auswüchse haben schon Ennius’ nächste Nachfolger beschnitten; aber noch ein Dichter von der hervorragenden Bedeutung des Lucrez, dessen hinterlassenes Werk 54 von Cicero herausgegeben worden ist, bemüht sich, von derlei Sonderlichkeiten abgesehen, möglichst in ennianischem Stil zu schreiben. Ja, vieles, was Ennius gewagt hatte, ist

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/552&oldid=- (Version vom 1.8.2018)