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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Unglück hatten, Römer zu sein, – das kann auch wieder nur, wer auf einzelne Schriftsteller hin über die ganze Sprache aburteilen zu dürfen glaubt. Gewiß ist in der römischen Literatur häufiger die gewaltige Kraft leidenschaftlicher Invektive und das schöne Pathos männlicher Begeisterung (man muß etwa Ciceros Rede gegen Piso lesen, um die erstere ganz zu empfinden; beim letzteren aber – wer denkt nicht an horazische Glanzstellen, die kein Schulunterricht verleiden kann, wie das Iustum et tenacem propositi virum oder Dulce et decorum est pro patria mori?). Aber, wenn auch schon derlei genügen müßte, um das Latein vom Vorwurf angeborener Nüchternheit zu befreien, hat nicht Catull der Liebe Leid und Lust mit so vollen Tönen zu singen gewußt wie die Besten anderer Literaturen?

Leidenschaft in der Sprache des Alltags.Vor allem indes: man soll auch hier, um über die Ausdrucksmöglichkeinten der lateinischen Sprache zu urteilen, nicht bei den klassischen Literaturdenkmalen stehenbleiben. Etwas von starrer Maske hat ihr Stil, wie wir gesehen haben, immer. Die Züge des lebendigen Antlitzes, das dahinter steckt, sprechen deutlicher. Das Latein, wie wir es auf der Schule lernen, wie wir es bei Tacitus, in der Aeneis, ja selbst in mancher Liebesode des Horaz lesen, mag uns immerhin etwas schwer und steif für Liebesgetändel dünken. Aber daß Roms Mädchen leichte und graziöse Worte dafür fanden, kann man doch nicht bezweifeln, wenn man an die Töchter der römischen Mutter denkt. Wo fließt derlei anmutiger von den Lippen als im Französischen und Italienischen? und sollte nicht, was die beiden gemeinsam haben, ererbtes Gut sein?

Plautus als Quelle der Alltagssprache?Wir können die letzte Frage bestimmt mit „ja“ beantworten. Daß wir es können, danken wir dem Manne, der zeitlich der erste ist, von dem uns umfassende Werke in lateinischer Sprache erhalten sind, der aber zugleich gerade durch seine Sprachbehandlung eine Sonderstellung unter allen uns erhaltenen römischen Schriftstellern einnimmt, dem Lustspieldichter Plautus († 184). Plautus war nach unseren Begriffen kein Originalgenie, sondern eher ein Übersetzer aus dem Griechischen, aber nicht nur keinem anderen Übersetzer, sondern selbst keinem Dichter – die Vorbilder des Plautus etwa ausgenommen – dürfte es wie ihm gelungen sein, in tadellosen Versen so unverfälscht die Alltagssprache zu schreiben. Selbstverständlich ist das nur darum möglich, weil die Gattung des Lustspiels eine besondere Stilisierung der Alltagssprache nicht mit Notwendigkeit verlangt. Aber auch daß Plautus in so frühe Zeit fällt, kommt uns hier zustatten: an dem zweiten uns erhaltenen Lustspieldichter Terenz (tätig von 166–159) können wir sehen, wie mit dem größeren Interesse vornehmer Kreise an der Literatur auch in der Komödie der Ton feiner, gehaltener, künstlicher wird. Plautus allein führt uns den Durchschnittsrömer vor, redend, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; seine Verse haben ihn zwar, wie natürlich, auch manchmal zu freiem Schalten mit der Umgangssprache genötigt, sie enthalten auch mancherlei gräzisierende

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/550&oldid=- (Version vom 1.8.2018)