Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache | |
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für seine Sprache durchaus als verbindlich an, in den Reden wie in den Briefen, in den philosophischen wie in den rhetorischen Schriften. Und nichts zeigt seine beherrschende Stellung innerhalb der römischen Literatur deutlicher, als daß von jetzt an nur die ernstesten Fachschriftsteller wie die Juristen und Männer vom Range eines Tacitus sich die Abweichung von dem steifen und – wie es uns scheinen will – monotonen Regelzwang gestatten. Vier Verbindungen von bestimmten Versfüßen, fünf bis acht und mehr Silben umfassend, nehmen jetzt fast jeden römischen Satzschluß ein, ja erscheinen nicht nur da, wo wir einen Punkt, sondern meist auch, wo wir ein Komma setzen.
Mehr braucht man eigentlich nicht zu sagen, um den abgrundtiefen Riß erkennen zu lassen, der das Latein der Literatur von dem Latein des Alltags trennte. Der Zwang der Rhythmisierung hat so gut wie der Zwang des Versbaus beständige Abweichungen vom naturwüchsigen Latein zur Folge gehabt. Wortwahl, Wortformung, Wortstellung wurden entscheidend beeinflußt, und ein Mann aus dem Volk mag manchmal rechtschaffene Mühe gehabt haben, um eine ciceronische Periode zu verstehen. F. Th. Vischer hat, um die Verschiedenheit zwischen mündlichem und schriftlichem Ausdruck scharf auszusprechen, einmal das Wort geprägt: „eine Rede ist keine Schreibe“; man könnte mit einer Umkehrung dieses Ausdrucks sagen, daß die Schrift in keinem Idiom so wenig wie im Lateinischen die Sprache ist.
Natürlich soll nicht geleugnet werden, daß, wie wir ja Schriftsteller gefunden haben, die die Rhythmisierung als Stilprinzip verschmähen, so manche andere überhaupt nicht nach dem Ruhme geizen, eine kunstvolle Sprache zu schreiben. Indessen ist solche Genügsamkeit nicht nur eine Ausnahme in der römischen Literatur, sondern man darf wohl auch sagen, daß von einem gewissen literarischen und also auch stilistischen Ehrgeiz, jedenfalls aber von literarisch-stilistischen Reminiszenzen so ziemlich jeder beherrscht wird, der den Griffel in die Hand nimmt. Ja selbst wo ein Petron.realistischer Schriftsteller die alltägliche Aussprache und Syntax zu kopieren unternimmt, wie es heute etwa Sudermann und Hauptmann tun, zur Zeit Neros Petron an einzelnen Stellen seines meisterhaften Romans getan hat, fließt die Quelle einerseits fürs Latein spärlich, andererseits bleibt immer zu fürchten, daß ungenaue Beobachtung und Karikatur vorliegt.
Das Latein eine logische Sprache?Vielleicht wird man jetzt ahnen, daß manche Urteile über die lateinisch Sprache Vorurteile nach der einen oder anderen Seite sind, ausgegangen von solchen, die der Meinung waren, wer Vergil oder Tacitus oder die Juristen kenne, kenne das Lateinische. Ein bis zum Überdruß wiederholtes Schlagwort ist das von der logischen Natur des Lateins. Jeden Grammatiker mutet es von vornherein sehr altmodisch an. W. v. Humboldt und andere nach ihm haben das Vorurteil für immer zerstört, daß Sprechen und Denken identisch, Satz = Urteil, Wort = Begriff sei; wir wissen seitdem, daß Sprechen (von seiner physiologischen Seite
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/548&oldid=- (Version vom 1.8.2018)