Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache | |
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durch das Griechische. Ob die Zehnmänner, die mit der Abfassung des Gesetzbuchs der 12 Tafeln (451/450) betraut waren, wirklich vorher eine Kommission nach Athen geschickt haben, um dort die Solonischen Gesetze zu studieren, hat man ebenso bezweifelt wie die tätige Mitwirkung eines Griechen bei der Kodifikation in Rom. Was aber griechische Inschriftfunde der letzten Jahrzehnte sichergestellt haben, ist, daß Formeln und Satzformen der 12 Tafeln vielfach nach griechischem Muster gestaltet sind. „Wenn (jemand) nachts stiehlt, wenn der Bestohlene ihn tötet, soll (er) zu Recht getötet sein.“ Kürze des Ausdrucks.„Wenn (jemand einen anderen) vor Gericht lädt, (so) soll (dieser andere) folgen. Wenn (er) nicht folgt, soll (der erste) einen Zeugen nehmen, dann soll (der erste) ihn (den anderen) ergreifen.“ Dieser Lakonismus der 12 Tafeln unterscheidet sich wesentlich von dem oben geschilderten italischen. Der letztere hinterläßt keine Unklarheiten; vom ersteren kann man das gleiche nur dann sagen, wenn er nicht sowohl auf Hörer als vielmehr auf Leser berechnet ist, die Zeit haben, sich zu überlegen, auf wen jeder der subjektlosen Sätze sich bezieht. Daß diese Kürze, bei der Mißdeutungen nur durch sorgsame Interpretation ausgeschlossen werden konnten, nicht römischem Boden entsprungen ist, wird um so sicherer scheinen, wenn wir hinzusetzen, daß sonst gerade römische Skrupulosität des Ausdrucks.Gesetzessprache schon in ihren ältesten Urkunden eine echt römische Skrupulosität an den Tag legt, die sich in Verhütung von Mißverständnissen gar nicht genug tun kann. Nicht „der Tag, an welchem das und das geschehen soll“, heißt es hier, sondern „der Tag, an welchem Tage“, nicht „wer nach diesem Gesetze verurteilt ist, darf das und das nicht tun“, sondern „wer nach diesem Gesetze verurteilt ist oder sein wird“; die Sprache bemüht sich in solchen Fällen, nur ja alle denkbaren Möglichkeiten zu erschöpfen. So sicher diese Eigentümlichkeit auf jenem Geschick und jener Gewissenhaftigkeit der Kasuistik beruht, die in immer verfeinerter Ausbildung die Größe der römischen Juristen ausmacht, um so gewisser dürfen wir die dazu in polarem Gegensatz stehende Knappheit nicht nur in Parallele setzen mit der genau entsprechenden Ausdrucksweise griechischer Gesetze wie des von Gortyn auf Kreta, sondern unmitttelbar daraus herleiten.
Stilistischer Einfluß der ältesten Gesetzgebung.Die 12 Tafeln gingen jedem Römer schon in frühester Jugend in Fleisch und Blut über; sie wurden in der Schule auswendig gelernt, und das Leben sorgte dafür, daß sie dauernder Besitz des Gedächtnisses blieben. So wird, wer etwa des alten Cato uns erhaltene Prosaschrift über den Landbau (aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) liest und den eigentümlich kurz angebundenen Kommandoton des Büchleins auf sich wirken läßt, die Vermutung nicht willkürlich finden, daß Cato im Stil der 12 Tafeln, d. h. ihm selbst natürlich unbewußt im Stil griechischer Gesetze schreibt. Nicht besser kann sich offenbaren, wie sehr das Latein in den Bann des Griechischen geriet, als darin, daß auch der starre Altrömer, der abgesagte Feind alles griechischen Wesens, ihm hier verfiel, wo er gewiß durchaus populär sein wollte.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/546&oldid=- (Version vom 1.8.2018)