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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

noch als rudimentärer Überrest vorkommt. Außer dem Singular und Plural gab es als Ausdruck der Zweiheit den alten Dual, der auch noch bis ins Sonderleben des Lateins hineingeragt hat; alle diese Formen aber erfreuten sich im wesentlichen der alten indogermanischen Endungen ohne allzuviel Abschleifungen oder sonstige Veränderungen.

Im Gegensatz zu diesem Konservativismus sind, wie gesagt, auch Neuerungen in der Sprache der Einwanderer. Akzent.charakteristische Neuerungen bereits im frühesten Italischen vollzogen. Wenn die indogermanische Mutter betonte Silben im ganzen höher sprach als unbetonte, so ist das Italische dazu übergegangen, sie stärker zu sprechen; um es technisch auszudrücken: aus dem musikalischen Akzent ist ein exspiratorischer geworden. Es war eine Änderung, die weiterhin den lautlichen Habitus einzelner italischer Sprachen, besonders aber des Lateinischen, aufs stärkste beeinflußte. Der exspiratorische Akzent nämlich ist es gewesen, der die sogenannte Synkope zuwege brachte, das Verschwinden kurzer Vokale in der Silbe nach dem Akzent. Lateinisch cálidus ‚warm‘ ist nicht erst im Italienischen zu caldo geworden, sondern schon die Römer kennen auch die durch eben jenen Einfluß des Akzents hervorgerufene Form caldus. Diese Akzentwirkung ist aber um so weitgreifender gewesen, weil lange Zeit hindurch der lateinische Akzent noch nicht die uns aus der Schulgrammatik bekannte Stelle einnahm, sondern (von gänzlich unbetonten Wörtern natürlich abgesehen) in jedem Worte auf der ersten Silbe stand. Es verfielen also der Synkope die zweiten Silben in beliebig langen Worten. Der Baumname Cypresse kann dafür als bequemes Beispiel dienen. Bei den Griechen lautete er kyparissos; als ihn die Römer übernahmen, gaben sie ihm die Betonung auf der ersten Silbe, durch die das a vernichtet wurde, und so entstand lateinisch cupressus.

Unter den Veränderungen einzelner Laute heben wir als eine markante Lautliches.Eigentümlichkeit des Uritalischen die Behandlung der indogermanischen sog. Aspiraten hervor. Das Indogermanische kannte Verbindungen von b, g, d mit einem folgenden h, die sich im alten Indischen unverändert erhalten haben; diese eigenartigen Laute sind im Italischen zunächst zu sog. Spiranten geworden, das bh zu f, das gh zu ch (wie unser deutsches ch gesprochen), das dh zu th (gesprochen wie englisch th in thank think). So steht neben indisch bhrātar ‚Bruder‘ lateinisch frater. Das th hatten einzelne italische Dialekte noch im 5. Jahrhundert v. Chr. bewahrt, wie die merkwürdige Geschichte unseres Wortes Liter zeigt: es geht auf griechisch litra ‚Pfund‘ zurück, und dies ist eine lautlich nicht genaue Entlehnung der unteritalischen Griechen aus italisch lithra ‚Pfund‘. Die meisten italischen Dialekte aber hatten damals das th bereits weiter in f gewandelt, so daß in ihnen z. B. das Wort für Pfund lifra klang.

In der Formenlehre zeigt das Verbum den stärksten Riß zwischen Formales.Gemeinindogermanisch und Italisch. Wohl ist in den Personalendungen und ähnlichen formativen Elementen (z. B. dem des Konjunktivs oder

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/537&oldid=- (Version vom 1.8.2018)