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die Freunde nicht braucht, so will ein jeder einem sein Freund sein. Aber hat man den Freund nötig, so geht es, als wie es die folgende Geschichte zeigt und wie folgt als Zeitvertreib:

Es war einmal ein König, der schickt seinen Sohn aus in ein weites Land, um allerhand Weisheit zu lernen. Und der Sohn blieb dreizehn Jahre aus. Also schrieb der König an seinen Sohn, es wäre Zeit, er sollte wieder nach Hause kommen. Der Sohn tat also und er zog heim zu seinem Vater, und der König schickt ihm viel Volk entgegen und empfing seinen Sohn gar ehrlich mit großen Freuden. Der König stellt seinem Sohn ein großes Mahl vor und sie waren sehr lustig. Als nun die Mahlzeit vorüber war, spricht der König: »Lieber Sohn, hast du auch viele Freunde in der Stadt gehabt, in der du gelernt hast?« Der Sohn antwortet: »Herr König und Vater, die ganze Stadt waren meine Freunde.« Der König sprach: »Mein Sohn, wie sind sie denn deine Freunde geworden?« So antwortet der Sohn: »Ich habe alle Tage Mahlzeiten veranstaltet und sie waren alle gute Trinkbrüder; und ich hab ihnen allezeit guten Wein gegeben, dadurch waren sie alle meine guten Freunde.«

Und es hört der König die Worte von seinem Sohn und er seufzt und schüttelt seinen Kopf über ihn. Und der König sagt: »Ich habe gemeint, du hast viel Weisheit gelernt, und jetzunder habe ich keine Weisheit von dir gehört. Du hältst deine Saufbrüder für Freunde und das ist fehl. Denn die Trinkbrüder sind versoffene Leute. Es ist ihnen kein Vertrauen oder Glauben zu schenken. So lange der Trunk währt, werden keine besseren Freunde auf Erden sein, als wären sie von einer Mutter geboren. Aber wenn die Mahlzeit aus ist, so gehen sie davon und wischen das Maul ab und denken: ,Wirst du mich mehr rufen, so gibt es keinen Zorn, rufst du mich nicht mehr, so hab ich dich geschorn.' Und wenn du sie nicht rufst oder sie bekommen bessere Zechbrüder, so werden sie dich nicht mehr achten, wie auch dein Essen und Trinken und werden auch deine Brüderschaft ganz vergessen.«

Empfohlene Zitierweise:
Glikl bas Judah Leib: Die Memoiren der Glückel von Hameln. Wien, 1910, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Glueckel_194.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)