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Stuhl, darauf zu sitzen, am Tische neben dem Schiffer, und der Schriftgelehrte empfängt sie. Er zweifelt etwas an ihrem Gesichte und erkennt sie nicht recht. Sie erkennt ihn gar nicht, denn es war schon viele Jahre, daß sie von sammen waren, und sie waren in ihrem Angesicht und in ihrer Kleidung ganz verändert. Der Schriftgelehrte schwieg still, und sie aßen und tranken und waren lustig. Aber der Schriftgelehrte konnte nicht lustig sein und er saß da wie einer, der in großem Nachdenken sitzt. Da spricht der Schiffer zu dem Schriftgelehrten: »Mein Herr, warum seid ihr nicht lustig und sitzt so in schweren Gedanken? Ist es euch leid, daß wir so lange essen und trinken? So wollen wir aufhören, uns bedanken und unseren Weg weitergehen.« So spricht der Schriftgelehrte: »Nein, ihr seid meine lieben Gäste, und ich denke nur an das Rätsel. Ich möchte es von der Frau selbst gern hören.« Und es gebeut der Schiffmann seiner Frau, daß sie dem Fürsten das Rätsel selbst erzählt. Und sie erzählt das Rätsel, wie oben gesagt, und er sagt zu ihr: »Von wem habt ihr das Rätsel?« Sie spricht: »Herr, ich hab einen frommen Mann gehabt, einen großen, jüdischen Rabbiner, der erzählte mir allzeit solche alte Geschichten und Rätsel. Und von diesem Rätsel weiß kein Mensch, was die Auflösung ist.« So antwortet der Schriftgelehrte: »Und wenn nun einer die Lösung sagen möchte, wolltet ihr die Wahrheit bekennen?«

Sie antwortet ihm: »Mein lieber Herr, es ist keiner auf der Welt, der dieses Rätsel mit der Wahrheit bescheiden kann, außer mein voriger Mann.« Und der Schriftgelehrte antwortet: »Nun bin ich der Bescheider, der es bescheiden kann. Der Vogel, der da fliegt vom Himmel bis auf die Erde, das ist die Seele des Menschen. Sie setzt sich auf ein Bäumlein, das ist der Körper des Menschen. Der ist verglichen mit einem Baum, der aufwächst, hübsch grün und zweighaftig. Das ist die Jugend, die ist verglichen mit einem hübschen Lustgarten, in den der Vogel kommt und wendet den Baum. Das ist die Seele, die regiert, kehrt und wendet, macht gelenkig alle Glieder; aber keiner sieht den Vogel,

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Glikl bas Judah Leib: Die Memoiren der Glückel von Hameln. Wien, 1910, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Glueckel_046.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)