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Walther Kabel: Gletscherleichen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 8, S. 212–216

Auch der Rhonegletscher hat im Jahre 1885 zwei Leichname nach fünfundzwanzig Jahren wieder herausgegeben. Am 22. Juli 1860 war das Ehepaar Fulgotta, aus Mailand gebürtig, im Vertrauen auf seine durch viele Bergtouren erworbene Kenntnis der Gefahren der Alpenwelt ohne Führer vom Grimselhospiz aus zur Besteigung der Gerstenhörner aufgebrochen. Als die beiden Fremden nach Verlauf von vier Tagen noch nicht zurückgekehrt waren, ging eine Rettungsexpedition ab, die eine ganze Woche lang nach den Italienern vergeblich suchte. Man fand nur in der Höhe des Furkahorns auf dem Rhonegletscher einen Bergstock, an den mit Band ein Stück Papier befestigt war, worauf wenige völlig unleserliche italienische Worte standen. Unzweifelhaft war dies eine letzte Nachricht des von einem Unwetter überraschten und vom sicheren Tode bedrohten Ehepaares, dessen Leichen der Eisstrom dann fünfundzwanzig Jahre später wieder freigab.

Am 16. September 1911 verstarb in Chamonix Edward Whymper, der am 14. Juli 1865 als erster das bis dahin für unbezwinglich gehaltene Matterhorn bestieg, sich außerdem aber auch durch mehrere Grönlandreisen und zwei Besteigungen des Chimborasso einen Namen gemacht hat. Dieser Todesfall hat die interessierten Kreise daran erinnert, daß das Gletschereis noch heute die Leichen der bei jener ersten Bewältigung des Matterhorns leider durch Absturz verunglückten vier Gefährten Whympers umschließt, unter denen sich auch der englische Lord Frederick Douglas befand. Nach den angestellten Verrechnungen müssen die Körper der vor mehr als vierzig Jahren umgekommenen Bergsteiger in einem der nächsten Sommer aus dem Gletscher wieder zum Vorschein kommen.

Es ist ein seltsam unheimlicher Gedanke, sich diese in ihrem Eisbett langsam zu Tal gleitenden menschlichen Leichname vorzustellen, über denen mit schwerem, genageltem Schuh der Bergsteiger auf dem Gletscher dahinwandert, ohne zu ahnen, daß vielleicht wenige Meter unter ihm die Opfer eines verhängnisvollen, Jahrzehnte zurückliegenden Unfalls dem Licht des Tages wieder zustreben.

Die Zahl dieser Gletscherleichen, auf deren Wiedererscheinen

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Walther Kabel: Gletscherleichen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 8, S. 212–216. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gletscherleichen.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)