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Wer Welt und Menschen kennt, muss antworten: In der von ihm erstrebten Form nicht. —

Es ist ein Wunsch, der in den Herzen aller edlen Manner lebt, dass die Menschheit veredelt und der Vollkommenheit zugeführt werden möge, es ist aber auch ganz sicher eine Utopie, anzunehmen, die Vollkommenheit werde jemals erreicht werden. Die Vollkommenheit an sich ist kein feststehendes erreichbares Ziel; sie ist eine göttliche Eigenschaft, nach der die Sterblichen streben sollen, die aber, wenn sie ganz zu erreichen wäre, in sich das Entwickelungsgesetz zum Stillstande bringen würde. Welches Streben, welches Fortschreiten, welche Freude an schaffensmutiger Arbeit bliebe noch übrig, wenn nicht auch das, was wir vollkommen zu nennen geneigt sind, dennoch der Möglichkeit der Verbesserung weiterhin unterworfen wäre. — Wenn nun gar unvollkommene Menschen die Wege suchen, die Vollkommenheit an sich zu ziehen, selbst durch die ihnen am klügsten scheinenden Mittel, so wird niemals dieses Ziel erreicht werden können. Das Begrenzte kann nicht das Unbegrenzte in sich aufnehmen. —

Menschen, die sich solche Arbeit zumuten, werden diesen Stein des Sisyphus niemals auf die beabsichtigte Bergeshöhe wälzen, sie rechnen zu wenig mit der Schwäche und Leidenschaft der Menschen, gehen daran zugrunde und stehen kurz oder lang vor den Trümmern ihres idealen Baues. So erging es auch Weishaupt.

Weishaupt hatte allerdings sein höchstes Ideal in die fernste Zukunft gesetzt, es sollte nur aus der Ferne dem Suchenden zuleuchten, ihn aber anspornen zu ernsthaftem Ringen. Ein zu hochgespanntes Ideal wird jedoch dem Menschen sehr bald nur ein Phantom. Er erkennt die Unmöglichkeit des zeitlichen Erringens und sieht sich sehr bald nach erreichbareren Gütern um. Der höchste strahlende Gott erhält alsbald Untergötter, die dem Sterblichen weniger spröde, blendend und seinen Wünschen gefügiger erscheinen. Hier scheidet sich dann Theorie und Praxis und eröffnet alle erdenklichen Wege der Heuchelei, Scheinheiligkeit und bewussten Betruges, unter dem Deckmantel der Brüderlichkeit. Der angebliche Besitz unbekannter Wissensschätze, tiefsinniger Mysterien, durch welche die Sache interessant gemacht werden soll, entpuppt sich dann bei solchen Gesellschaften immer bald als eine grosse Seifenblase,

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Leopold Engel: Geschichte des Illuminaten-Ordens. Berlin: Hugo Bermühler Verlag, 1906, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Illuminaten-Ordens_(Engel)_464.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)