geistigen Kräfte Reuchlin zur Seite standen, veranstalteten seine einflußreichen Freunde alsbald nach seiner Ankunft in Rom eine Sammlung von Briefen berühmter Männer: „Epistolae virorum clarorum“, welche berühmte Zeitgenossen an ihn geschrieben hatten. Die Humanisten lernten sich, wie Strauß ausführt, bei dieser Gelegenheit zuerst als große Macht kennen. Alle freisinnigen Deutschen und Italiener scharten sich um Reuchlin; sie betrachteten seine Sache als die ihrige, und Reuchlinist oder Arnoldist (nach Tungerns Vornamen) wurde das Feldgeschrei in beiden Lagern. Männer wie Peutinger, Pirckheimer und Erasmus verwandten sich beim Papste und den Kardinälen für den Verfolgten. Am 2. Juli 1516 endlich fand die Schlußsitzung des Gerichtshofs statt, dessen sämtliche Mitglieder sich, mit Ausnahme eines eifrigen Dominikaners, für Reuchlin und gegen seine Ankläger erklärten. Der Papst wagte aber nicht, das Urteil zu verkünden, sondern erließ ein Mandatum de super sedendo, welches den Prozeß bis auf weiteres nach Belieben der Kurie hemmte und ein ferneres Vorgehen untersagte. So blieb die Sache vorläufig in der Schwebe. Erst am 23. Juni 1520 wurde durch einen päpstlichen Beschluß die Ungültigkeitserklärung der speyerschen Entscheidung wiederholt, welche Hogstraaten schon früher unter der Hand durchzusetzen gewußt hatte, ohne daß jedoch die Humanisten sich bis dahin irgendwie darum gekümmert hätten. Es war also jetzt offiziell der „Augenspiegel“ als ein ärgerliches, frommen Christen anstößiges, den Juden in unerlaubter Weise günstiges Buch für den Gebrauch untersagt und zur Vernichtung verdammt, Reuchlin aber zu ewigem Stillschweigen und in die Kosten des Prozesses verurteilt.
Der römische Donner kam zu spät. Als er verkündet wurde, nahm kaum jemand Kenntnis von ihm, denn andere, schwerer wiegende Interessen und Kämpfe standen im Vordergrund. Reuchlins Streit mit den Obskuranten war eine längst abgethane Sache, zumal auch Sickingen 1519 und 1520 die kölner Dominikaner zum Frieden mit Reuchlin gezwungen hatte, jener also thatsächlich nicht weiter gestört wurde. Wenn auch schließlich verurteilt, so stand der edle Mann doch in den Augen der Mehrzahl des deutschen Volks als Sieger da. Und mit ihm hatte die neue Richtung gesiegt, welche einen Blick in den Sumpf von Beschränktheit und Unwissenheit der Scholastiker und ihrer Anhänger eröffnet, der kirchlichen Autorität aber einen empfindlichen Schlag versetzt hatte.
Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 1886, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Dt_Buchhandels_1_06.djvu/042&oldid=- (Version vom 1.8.2018)