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großen literarischen Verkehr, aber nicht minder auch die Originalität und Tiefe seiner Gedanken schuld, welche zwar nicht selten zu schönem, plastischem Ausdruck sich erheben, nicht weniger selten aber wie in alter Kruste verhüllt sind, so daß man diesen seltenen Geist mit einem herrlichen, aber nicht geschliffenen Diamanten vergleichen darf.

Nicht ohne Verwandtschaft mit Oetinger ist das gnostische System Immanuel Swedenborgs.[1] Dieser merkwürdige Mann von edlem Charakter und unterrichtetem Geist, eine seltsame Mischung von Schwärmerei und trockener Verständigkeit hat dem orthodoxen Lehrbegriff ein System entgegengestellt, dessen extrem supernaturale Einkleidung den heterodoxen Inhalt zu decken und zu empfehlen beabsichtigt, auch ohne Zweifel nach der redlichen Meinung des Verfassers deckt und begründet, aber nichts desto weniger mit diesem seinem Inhalt auf das Seltsamste contrastirt.

Wir zeichnen zuerst die Hauptzüge dieses seines Systems, da offenbar dasselbe nicht erst der heiligen Schrift entnommen ist, sondern höchstens bei Gelegenheit der Schriftlectüre sich in ihm so entwickelt hat, wie es auch an einem andern Buche sich hätte entwickeln können; so lose hängt es mit dem, was er in der heiligen Schrift las, zusammen. Es ist auch offenbar, daß selbst seine allerdings charakteristische Ansicht von der heiligen Schrift nur ein Widerschein seines in ihm treibenden Systems und ein Produkt desselben ist und daß seine Erklärungen über die Quelle seines Systemes noch eine besondere nicht aus der heiligen Schrift für sich stammende Erleuchtung beanspruchen, die nur ihm als einem Propheten oder dem Parakleten zur Einführung der Kirche des neuen Jerusalems (1770 nach Vollendung seines Werkes de vera religione christiana) geworden sein soll. Swedenborgs himmlische (engelische) Offenbarungen sollen den Schlüssel für das wahre Schriftverständniß enthalten, das die Einheit und Blüthe der Kirche herstellen wird: in Wahrheit sollen sie aber einen Canon über dem Canon


  1. Imm. Swedenborg, Vera christiana religio, continens universam Theologiam Novae Ecclesiae. Amst. 1771. Opp. Vol. 8. ed. princ. Lond. 1749. Summaria expositio doctrinae christianae 1769. De nova Hierosolyma et ejus doctr. coelesti. Lond. 1858. Arcana coelestia 1749. Andres s. bei Schneckenburger Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren protestantischen Kirchenparteien, ed. Hundeshagen 1863. S. 221 ff. Haug, die Lehre der neuen Kirche oder des neuen Jerusalems in d. Studien der württemb. Geistlichkeit 1842. Hamberger in Herzogs Realencyclopädie unt. d. Art. Swedenborg.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_662.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)