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Christus auf die ausnehmendste Art. Zu ihm zieht unser sensus communis, zu dem auch das Gewissen gehört, uns hin; und das ist der Anknüpfungspunkt für die Wirkungen des heiligen Geistes im Menschen. Der sensus communis ist seine Werkstatt und die Wahrheiten der heiligen Schrift treffen mit dem innersten Gefühl des Gewissens zusammen. Durch die heilige Schrift wird der sensus communis erst standhaft gemacht. Er würde aber leicht abirren und sich selbst zweifelhaft werden, wenn nicht göttliche Kraft, die das seelische Leben zum geistlichen verklärt, und die heilige Schrift mit der heiligen Geschichte, davon sie zeugt, mit dazu käme. Nach dem sensus communis als dem allgemeinen Wahrheitsgefühl ist aber auch die h. Schrift auszulegen und nicht nach irgend einer Philosophie. Aufs Strengste, Treuste will er an der h. Schrift und ihren Grundbegriffen als einem Amphitheater der höchsten und niedrigsten Dinge festhalten; ihre Grundbegriffe sind ihm maßgebend für das Gebiet der Natur und des Geistes, die Zusammenfassung derselben ist ihm die Grundweisheit, die aber mit dem sensus communis stimmt und zur Philosophia sacra wird. Das war im Unterschiede von Bengel sein Streben, das allen einzelnen Aussprüchen heiliger Schrift zu Grunde liegende große System göttlicher Wahrheiten in seinen wesentlichsten Grundzügen aufzufinden; sie ist ihm unerläßlich der modernen Philosophie gegenüber. Denn er erkennt, daß, weil man ohne Philosophie nicht auskommen könne, Alles davon abhänge, die rechte Grundweisheit der falschen Philosophie entgegenzustellen. Aber auch der heiligen Schrift gegenüber ist ihm die Philosophia sacra nothwendig; er hält sie zu ihrem vollen Verständniß für so unentbehrlich, wie den Schlüssel für das Schloß. Seine heilige Philosophie will auch die rationes universales aller drei Facultäten inne haben. Aber er hat, und hierin ist er Hamann ähnlich geblieben, gewöhnlich nur fragmentarische Sätze, oft einzelne Geistesblitze enthaltend, mitgetheilt. Nur die Theologia ex idea vitae deducta ist mehr systematisch gehalten, während für gewöhnlich die Einheit und der Zusammenhang seiner Gedanken in seinem Innern beschlossen bleibt, und diese erst durch Combination in Verbindung zu bringen sind. Seine Darstellungsweise steht durch alterthümlichen derb populären Ton in seltsamem Contrast zu der Sprache und Methode der Aufklärungszeit, die in ihren bessern Produkten nicht bloß das scholastische Gewand abstreift, sondern auch eine gemeinverständlichere, so zu sagen menschlichere Form anzog. Daran ist die Einsamkeit seines Denkens, seine Abgezogenheit von dem

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Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_661.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)