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die aber in einer dritten vereinigt sind. Alle Vielheit läuft endlich in eine Zweiheit und durch diese in eine Einheit. Die heilige Schrift und die Alten bieten ihm puncta normativa und ideas directrices für die richtige Auffassung des Lebens.

Aber auch eine Geistesphilosophie erstrebt er, die ihm zu Stande kommt durch die Vereinigung zweier Factoren, der heiligen Schrift und des allgemeinen Wahrheitsgefühles (sensus communis). Als Resultat dieser beiden Quellen, die er auch in seinem Hauptwerk: Theologia ex idea vitae deducta immer vorausschickt, ergibt sich bei ihm die bewährte Wahrheit, die Philosophia sacra. Schon in dem seelischen Leben ist ein verborgener Zug zum Geistigen, ein sensus tacitus aeternitatis, stammend aus einer gewissen Einstrahlung, aus dem Lichte Gottes, die mit dem Leben der niederen Geschöpfe sich verbindend in dem Menschen allgemeine Vorempfindungen — Gefühl des Rechts und Unrechtes — und einen Takt das Nothwendigste, Nützlichste und Einfältigste zu treffen, erregt. Er nennt das auch ein geistlich-musikalisches Verständniß der Wahrheit, das ein allgemeines Gut von Oben sei, und wo das allgemeine Gefühl des Lebens und der Wahrheit, des Rechtes und des Unrechtes unterdrückt ist, läßt es sich nimmer aufrichten.[1]

Die Orthodoxie machte ihm den Vorwurf, daß er mit der kirchlichen Lehre von der Erbsünde nicht harmonire und einer bloß natürlichen Theologie Vorschub leiste, die Natur und Gnadenordnung verwirre und die Vernunft und den heiligen Geist vermische. Aber sein sensus communis ist ihm wohl unterschieden von der Stufe christlicher Erkenntniß; er ist ihm nur ein Fühlungswerkzeug (sensorium) der allgegenwärtigen Weisheit, des Lebens und der Wahrheit, des Rechtes und des Lichtes; isolirt von Gott gewährt er kein Wissen, man muß Gott haben in der Erkenntniß. Der sensus communis ist da für die objective Offenbarung Gottes; allgegenwärtig wirket und redet Gott durch Alles, das Inwendige ergießt sich in das Auswendige und das Auswendige bezeichnet das Inwendige. In allem rein Menschlichen, in Wissenschaft, Staat, Gesellschaft findet der sensus communis die Offenbarung des allgegenwärtigen Gottes. Er erschaut in Allem menschlich Wahren, Schönen, Guten das lebendige Göttliche, soweit es dem natürlichen Menschen zukommt. Dieses göttliche Lebensgefühl besaß


  1. Auberlen a. a. O. S. 70.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_660.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)