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entgegengesetzt sein, wie dem Idealismus der Wolffschen Philosophie. Mit den Theosophen des ersten Jahrhunderts der evangelischen Kirche (s. o. S. 600 f.) hat Oetinger einen mächtigen Zug zur Natur. Hinter der groben Materialität der Natur in ihrer gegenwärtigen Gestalt ahnt er eine höhere Realität, die durch den eschatologischen Proceß in die Erscheinung treten wird. Die Versuche, die Natur mathematisch oder mechanisch zu erklären, findet er prunkend, aber unfruchtbar. Das Innerste derselben verstehe die mechanische Kunstphilosophie nicht; ja auch Vergrößerungsgläser reichen nicht aus. Gehe man immerhin so weit und tief man kann, man wird doch müssen stille stehen und sagen: unausspürlich ist Gott.[1] Die Wahrheit ist, daß die Natur sich selber erst sucht, aber noch nicht gefunden hat; sie ist nicht ein in sich abgeschlossenes Sein, sondern ein Werden, das Gott zu seinem Ziele nimmt. Diesem Werden möchte er auf die Spur kommen, und dazu hat er sich viel mit der Chemie beschäftigt, um die Geburten der Dinge und das daraus hervorgehende Leben der Natur durch Experimente, die an Alchymie streifen, zu erforschen. Das Leben ist ihm das Erkennenswertheste; es offenbart sich evident dem allgemeinen Gefühl, sensus communis[2], während Nichts dem abstracten Verstande verschlossener bleibt, als das Leben. Auch in dem Kleinsten ist ein Unendliches, das so große Weisheit in sich faßt als die größten Weltkörper. Und beschaut man so die Dinge, so blicket die Allgegenwart Gottes in dem Leben aller Dinge hervor. Das Organ der wahren Naturbetrachtung ist ihm im Gegensatz zu philosophischen Abstractionen das ungetrübte Lebensgefühl einer rein gestimmten gottinnigen Seele, die einen gewissen Rapport mit dem Innersten der Natur in sich herstellt, wie solchen die ersten einfachen Naturkinder genossen haben. Das ist die „metaphysische Empirie“ Schellings, die ihre Anwendung ebenso auf dem Gebiet der Geschichte, wie der Natur hat; ein Analogon des Unterschiedes, den Hamann zwischen dem Hören von Tönen und dem musikalischen Gehöre, zwischen dem Sehen von Farben und dem Auge des Malers macht. Aber doch müssen wir denkend der Natur näher zu kommen suchen. Die Idee des Lebens ist ihm ein Ineinander von zwei gegeneinanderstehenden Kräften,


  1. Vgl. Auberlen a. a. O. S. 55 f.
  2. Vgl. seine Schrift: Die Wahrheit des Sensus communis oder des allgemeinen Sinnes in den nach dem Grundtexte erklärten Sprüchen und Prediger Salomo. Inquisitio in sensum communem, bei Auberlen S. 66.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_659.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)