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neuster Zeit von Schelling und Rothe weiter entwickelt und von letzterem auch für die Ethik verwendet, wurden freilich von Oetinger zu unmittelbar in der heiligen Schrift gefunden. Der „biblische Realismus,“ müde der Verflüchtigungen biblischer Kernbegriffe, verwarf, um überall „massive Begriffe“ in der heiligen Schrift zu haben, jede bildliche Redeweise, und indem demgemäß auch das prophetische Wort der heiligen Schrift z. B. der ezechielische Tempel erklärt wurde, so mußte dasjenige, was noch nicht seine massive buchstäbliche Erfüllung gefunden hat, als noch bevorstehend erwartet werden. Dadurch verfiel die Bengelsche Schule, so wahr und tief der Grundgedanke ist, daß Leiblichkeit das Ende der Wege Gottes sei, vielfach wieder einem Literalismus, ja sogar einem Judaismus; z. B. Thieropfer und Priesterthum sollen in dem tausendjährigen Reich wieder ihre Stelle und das jüdische Volk soll über alle andern nach seiner Bekehrung die Herrschaft haben. Da war die Gefahr, das bisherige Christenthum nur zu einer Vorhalle des vollendeten Judenthums zu machen und das im Geist begonnene im Fleisch enden zu lassen, ja auf eschatologischem Umweg auch in bedenkliche Nähe zu katholischen Grundgedanken zu gerathen.

Doch ist dieses mehr nur als Schale zu betrachten, welche diese frische jugendliche Erscheinung auf dem Gebiet der Theologie noch an sich trägt. Sie ist, wenn auch in der Methode noch unvollkommen, doch darum so beachtenswerth, weil sie die Sprödigkeit gegen die „Weisheit auf der Gasse“ (die Philosophie) aufgibt, an einer Versöhnung mit dem Glauben festhält, durch manche kostbare Gedanken eine neue tiefere und gehaltvollere Philosophie ankündigt, namentlich schon bedeutende Sätze der Erkenntnißtheorie ausspricht, mit der sich die deutsche Philosophie zunächst beschäftigen sollte. Wir verweilen noch etwas hiebei.

Oetinger sucht eine spekulative Theologie oder Religionsphilosophie, die Natur und heilige Geschichte in sich aufnähme. Eine kindlich einfältige Frömmigkeit vereinigt sich in seinem gewaltigen Geist mit einem unauslöschlichen Wissensdurst, mit ausgebreiteter Gelehrsamkeit und einem hellen, philosophisch gebildeten Verstande.[1] Die neue Wissenschaft, die er weissagt und zu inauguriren sucht, soll dem Spiritualismus der Orthodoxie, der die Realitäten der christlichen Welt zu schaalen Abstractionen herabsetzt, so


  1. Rothe a. a. O. S. IV.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 658. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_658.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)