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von Bengel als sehr incongruent mit der heiligen Schrift gefunden war. Bengels Anschauung von der himmlischen Welt als einer Welt von Realitäten konnte Gott nicht mehr nur als das unbegrenzte unermeßliche Wesen voll Wille und Verstand denken, sondern als das lebendige Centrum, das Alles durchwaltend zugleich in seiner eigenen Herrlichkeit und Seligkeit thront, zu der es durch Christus die Menschen emporführt. Er konnte nicht damit vorlieb nehmen, Gott in seinem Verhältniß zur Welt nur als das todte Gesetz zu denken und die Beziehung zum Menschen in dem juridischen Verhältniß des Gebietens, Gerechtsprechens und Richtens aufgehen zu lassen, sondern er wollte neben dem juridischen auch das lebendige physische und ethische Verhältniß Gottes zur Welt zu seinem Rechte kommen lassen, was auf die hergebrachte Versöhnungslehre seiner Zeit zurückwirken mußte.[1]

Oetinger nun ergreift diese Gedanken und bringt sie zu reicher, selbstständiger Verarbeitung.[2] Gott ist ihm nicht absolute Einfachheit, sondern die absolut vermittelte Einheit der göttlichen Kräfte. Indem er in Gott lebendige Potenzen setzt, deren Band zwar in ihm unauflöslich ist, die aber doch für sich wirken können, hofft er daran ein Princip der Bewegung im Gegensatz zu dem starren Gottesbegriff Spinoza’s oder der Wolffschen Philosophie und des Deismus gefunden zu haben. Nicht minder aber findet er auch die Kirchenlehre spiritualistisch, in einem falschen Gegensatz zur Natur und Leiblichkeit, zum „biblischen Realismus.“ Die Herrlichkeit (δόξα), welche die heilige Schrift Gott zuschreibt, ist nicht bloße geistige Erhabenheit, sondern die Objectivirung seiner innern Lebensfülle, die Natur oder der Strahlenleib Gottes. Gott ist ihm und seinen Freunden nicht bloß Geist, sondern substanzielles Leben, was sie mit der Leiblichkeit Gottes bezeichnen wollen. Diese bildet dann für die Weltentstehung das nächste Princip, die unendlichen Kräfte in Gott aber, die in der Natur nur in aufgelöster Einheit sich finden, sind in dem Menschen als Mikrokosmos und Mikrotheos wieder, wenn gleich nur erst löslich vereinigt. Mit ihm beginnt die Geschichte, das Reich der Freiheit, deren Ziel eine herrliche Einheit von Geist und Natur ist, wobei die Natur zur geistigen Leiblichkeit erhoben wird, der Geist aber ebendamit zu seiner substanziellen Kraft und Organisation gelangt. Diese Gedanken, in


  1. V. d. Goltz a. a. O. S. 479.
  2. Auberlen, die Theosophie F. Ch. Oetingers mit Vorwort von Rothe, 1847. Auch Hamberger und Ehmann haben um das Gedächtniß Oetingers große Verdienste.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_657.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)