Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 653.png

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

denn er will die heilige Schrift nicht als ein bloßes „Spruchbüchlein“ für erbauliche oder dogmatische Zwecke behandelt wissen, sondern die heilige Schrift ist ihm ein weise geordnetes, lebensvolles Ganzes, worin nichts zu wenig, nichts zu viel, sondern alles voll Harmonie ist. Man hat nach Bengel die heilige Schrift „als eine unvergleichliche Nachricht von der göttlichen Oekonomie bei dem menschlichen Geschlechte von Anfang bis zum Ende aller Dinge durch alle Weltzeiten hindurch“ anzusehen, als ein schönes, herrliches zusammenhängendes System.[1] Er denkt aber nicht daran, die schriftmäßige Beschreibung dieser Haushaltung des Reiches Gottes, welche in ihrer weisen Ordnung und Gliederung wie Himmel und Erde so die Aeonen umfaßt, als christliches Lehrsystem aufzustellen (wie das Coccejus und Andre in neuerer Zeit gethan haben, nicht ohne die Gefahr, entweder das Werden der Geschichte zu verflüchtigen oder aber den ewigen Gehalt zu wenig gegen den wechselnden in klarem Unterschied sicher zu stellen, vielmehr das Dogmatische von der Geschichte absorbirt werden zu lassen, was wieder einem bloß historischen Glauben zuführen müßte). Er weiß wohl, daß die Erkenntniß der Geschichte für sich allein den christlichen Glauben noch nicht begründet, und daß es diesem um ewige Dinge zu thun ist, die er im Historischen offenbar werden sieht. Daher beläßt er der schriftmäßigen Dogmatik ihre Stelle, will aber neben diesem Ersten und Nothwendigsten, der Erkenntniß Gottes, des Schöpfers, Erlösers, Trösters, so wie der Sünde und Gnade als zweites in der heiligen Schrift enthaltenes Denkmal Gottes die göttliche Haushaltung in Erziehung nicht bloß der einzelnen Seele zum Heil, sondern des Menschengeschlechtes angesehen wissen. Sein Glaube ist, daß der heiligen Schrift ein System von göttlichen Realitäten zu Grunde liegt, die durch Gottes Worte und Thaten sich zur Offenbarung bringen, ohne daß er jedoch dasselbe systematisch darzustellen unternommen hätte. In jenen Stammbegriffen hat er aber Bausteine für einen solchen Bau zugehauen.

Mit besonderer Liebe und Anstrengung richtet er jedoch seine Blicke auf das Ende der Wege Gottes, den Tag des Herrn. Denn „das Ziel aller Zeiten in der Schrift ist die Zukunft Jesu Christi in Herrlichkeit.“[2] Das alle Fülle der Vollkommenheit in sich schließende Ziel der Weltgeschichte muß


  1. V. d. Goltz a. a. O. S. 472.
  2. V. d. Goltz S. 473 ff. 479.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_653.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)