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verdrießen ließ, so viele Handschriften zu vergleichen als er deren konnte habhaft werden; dazu alte Uebersetzungen, Citate bei den Kirchenvätern u. s. w. zuzuziehen. Bengel ist der Schöpfer der neutestamentlichen Textkritik in Deutschland geworden und es ist noch für unsere Tage des Nachdenkens werth, daß die Mutter dieser Wissenschaft (an die sich nothwendig auch die umfassenderen Fragen nach der Aechtheit ganzer Schriften neuen Testaments anschließen) der zarteste und gewissenhafteste evangelische Glaube war, nicht etwa ein negativer, skeptischer Geist. Der evangelische Glaube bewährte in Bengel das kritische Element, ohne das er nicht gesund und lebendig bleiben kann. Die Textgestalt, sagt er, die an unsicherer Verschiedenheit der Varianten leidet, will festgestellt sein, damit wir nicht apostolische Worte ungenutzt lassen, oder Worte von Abschreibern als apostolische behandeln.[1] Derselbe Eifer, der nicht duldet, daß Göttliches als nur menschlich behandelt werde, verwehrt auch, daß nur Menschliches göttliche Auctorität genieße: das Eine wie das Andere fordert seine Anwendung auf einzelne Stellen wie ganze Schriften des neuen Testaments.[2] Und die ganze heilige Schrift, nicht bloß dogmatische Beweisstellen, ist zu studiren, besonders von den Theologen.

Das zweite Werk ist ihm die Auslegung. Hier kommt es ihm auf die genaueste Feststellung der biblischen Grund- und Stammbegriffe an, die er ziemlich in gleichen Bezeichnungen durch die ganze heilige Schrift als wäre sie Ein Buch, findet, ohne deßhalb einer mechanischen, die Individualitäten verkennenden und die Selbstthätigkeit der heiligen Schriftsteller ausschließenden Inspirationslehre zu huldigen.[3] Diese Grundbegriffe, wie Glauben, Leben, Licht, Gerechtigkeit, Herrlichkeit, ewiges Leben will er nicht durch irgend ein dogmatisches Schema in ihrer Fülle einengen, aber ebenso wenig die sogenannte „Emphase der Schriftworte“ dahin geltend machen, daß alles Mögliche in den Text hineingelesen werde. Vielmehr der einfache Wortsinn, im Zusammenhang aufgefaßt ist es was er mit eben so feinem als keuschem Ohr zu vernehmen sucht.[4] Er ist sich bewußt, dadurch nicht zu verlieren,


  1. Gnomon N. T. in quo ex nativa verborum vi simplicitas profunditas concinnitas salubritas sensuum coelestium indicatur. Tub. 1742. Praef. §. VIII.
  2. Er hat eine neue Textausgabe N. T. mit einem apparatus criticus 1734 edirt.
  3. Matthäus und Johannes findet er z. B. mehr geisterfüllt als Lucas und Marcus.
  4. Seine Grundsätze und Methode hat er in dem erwähnten klassischen, gedrängten, saft- und kraftvollen Gnomon N. T., seitdem mehrfach wieder gedruckt, ausgeführt.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_652.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)