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Kelch der lutherischen Orthodoxie bis zur Neige getrunken hatte, aber nun auch um so begieriger nach einer kräftigeren und gesunderen Kost war, wie sie ihm ein J. Val. Andreä, ein Hedinger und verschiedene Andere boten), ein Theolog ersten Ranges. Seine kerngesunde männliche Frömmigkeit war gleich weit entfernt von dem düsteren Ernst des späteren Pietismus, wie von der Weichheit und Gefühlsseligkeit Zinzendorfs; vielmehr bildete den Grundzug seines Charakters die Vereinigung der Ehrfurcht vor Gottes heiliger Majestät, die in strengster Gewissenhaftigkeit allezeit als vor Gottes Angesicht und daher unerschrocken und frei Menschen und ihrem Tadel oder Lob gegenüber stand, und eines kindlichen Vertrauens zu Gott, das frei von knechtischem Sinn und von menschlichen Schranken wie ein Sohn in den Schätzen des großen Hauses Gottes als seinem gottgeschenkten Eigenthume waltet.

Schon vor Bengel hatte Spener Freunde und Anhänger in Württemberg gewonnen, auch aus höheren Kreisen, besonders Reuchlin, Weismann, Hochstetter, Jäger, und der Verkehr mit Halle war längere Zeit hindurch ein sehr lebendiger. Auch Bengel besuchte diesen Sitz der Weisheit und Frömmigkeit 1713 und nahm tiefe Eindrücke mit sich. Aber die geistige Selbstständigkeit und Eigenthümlichkeit des schwäbischen Stammes, so willig sie alle verwandten Bildungselemente an sich zog, drang mit dem zweiten Viertel des Jahrhunderts, besonders gestützt auf die dort seit Alters heimische gründliche gelehrte Bildung durch, und wurde sich ihrer selbst immer klarer bewußt.

In Bengel zumal lebt so kräftig wie in Spener das praktisch religiöse Interesse und der zarte vor jeder Befleckung des Gewissens scheue Sinn, der ihn zu einer ehrwürdigen, gesalbten Persönlichkeit macht. Aber nicht nur ist in ihm auch der intellektuelle Faktor lebendig, und zur Nährung einer wachsthümlichen, mit der Taufgnade oder dem Bewußtsein der Kindschaft noch nicht fertigen Frömmigkeit will er die Erkenntniß der Worte und Thaten Gottes in ihrem Zusammenhange verwenden: sondern verglichen mit der hallischen Schule, besonders der späteren, ist ihm auch im Zusammenhang mit dem weitern Blick ein weiteres Herz, ein warmes Interesse nicht bloß für das Heil der einzelnen Seele, sondern für den ganzen „großen Haushalt Gottes“ und die göttliche Erziehung der Menschheit in Vergangenheit und Zukunft eigen. Er knüpft hier an das Verwandte in Speners „Hoffnung besserer Zeiten“ an; aber sie wird in ihm zu einem fruchtbaren Keime für eine ganze,

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Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_649.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)