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die christliche Erkenntniß (illuminatio) erst rein und vollständig sei, so wirke sie von selbst so auf den Willen, daß Alles auf das vortrefflichste bestellt sei. Im Vertrauen auf „die Reinheit der Lehre“ gaben sie sich daher einer Sicherheit hin, welche nur von einem florentissimus status ecclesiae[1] zu träumen wußte, verkannten, wie sie unversehens die „reine Lehre“ verunreinigt und gefälscht, das Evangelium zu einem Lehrgesetz und dogmatischen Codex verunstaltet, Natur und Gnade vermischt und den Begriff des Glaubens und der Wiedergeburt verflacht hatten. (S. o. S. 561 f.)[2] Durch all Dieses verschloß sich ihnen das Verständniß der neuen Bewegung, ja sie waren in die Nothwendigkeit versetzt, nur Verkehrtes in ihr zu argwöhnen.

Wir haben über diese Kämpfe nur wenige Bemerkungen zu machen. Einmal die, daß darin gewöhnlich Geistliche gegen Geistliche aufstanden. Die Bewegung hielt sich nämlich immerhin zunächst in den Formen und Schranken der bisherigen kirchlichen Ordnung, und Geistliche waren ihre Führer; aber allerdings Geistliche, welche eine Mündigkeit der Gläubigen wollten, auch nach einer angemessenen Nahrung und Beschäftigung für dieselben suchten. Ferner die dieser ernsten Bewegung entgegentretenden und gewöhnlich äußerlich siegreichen Theologen zeigen sich während der ersten Epoche des Kampfes geistverlassen, in Theologie wenig gewiegt, oder aber, wo es an Gelehrsamkeit nicht fehlte, wie bei der Leipziger und Wittenberger Facultät, intriguant, herrschsüchtig, wohl auch hoffärtig, scheinheilig und hinterlistig, wie J. F. Meyer in Hamburg und Schelwig in Danzig. Das tritt Seitens eines J. B. Carpzov bei den Leipziger Wirren hervor, durch die sich die feindliche Stellung der Orthodoxie entschied und wobei einen Augenblick zu verweilen ist.

In dem Jahr der Berufung Speners nach Dresden (1686), hatten sich ohne sein Dazuthun, zwei Magister, A. H. Francke und P. Anton, zu einem Collegium philobiblicum[3] in Leipzig zusammengethan, um mit andern Magistern, denen sich bald auch Studirende, ja Bürger anschlossen, tiefer in das von Seiten der Facultät in unglaublicher Weise verwahrloste Gebiet der Exegese einzudringen. Spener, den sie persönlich noch gar nicht kannten, freute sich und wurde für ihr Unternehmen Berather und Anwalt. Sie stellten sich unter das Präsidium des Prof. der Theologie Alberti und unter die akademische Genehmigung. Da aber das Unternehmen den


  1. [„florentissimus status ecclesiae“, lat.: blühendster Stand der Kirche]
  2. [siehe:] S. 561 562
  3. [„Collegium philobiblicum“, griech.-lat. etwa „bibelfreundliche Gesellschaft“]
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_627.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)