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liessen, waren sie wie Mahomedanerinnen verschleiert, obgleich sie diese verachteten und stolz auf ihren christlichen Glauben waren. Übrigens unterschieden sich auch damals schon die georgischen Frauen von den Mahomedanerinnen durch ihre höhere Bildung und ihre Stellung in der Familie, denn stets waren sie die Herrinnen im Hause und die ersten Lehrerinnen ihrer Kinder. Auch waren sie durch ihre Tugenden bekannt, und wenn es in früheren Zeiten unter ihnen manche Kleopatra oder gar Messalina gegeben hat, so waren das jedenfalls nur Ausnahmen.

In den ersten Jahrzehnten nach der Besitzergreifung Georgiens durch Russland änderte sich die allgemeine Sachlage in diesem Lande nur wenig, denn das in einen patriarchalischen Stillstand versunkene Volk trat nur ungern aus seiner Verschlossenheit heraus und zog seine hergebrachten Zustände und Sitten allen Neuerungen vor.

Als endlich dann die höhere Gesellschaft aus dieser Zurückgezogenheit heraustrat, um doch von dem neu eingeführten, mit dem Zauberglanze der Zivilisation übertünchten Leben zu kosten, fand sich bald eine zahlreiche Menge ein, die an diesem Schmause Teil zu nehmen geneigt war und sie schmausten solange ihnen eben die Mittel zur Bezahlung der neuen Leckerbissen ausreichten. Georgien schien aus seinem Schlummer erwacht zu sein, denn in den Häusern und Palästen seiner Reichen regte es sich wirklich und in ihren alten Mauern ertönten Lieder, Musikklänge und Vivatrufe. Dieser Vergnügungsrausch währte ziemlich lange, denn er besass ja den Schein eines neu erwachten Lebens und die ihn begleitende Festtagsstimmung hielt mancher für Begeisterung, welche die zum modernen Leben bekehrten Ritter der europäischen Zivilisation entgegenbrachten. Sogar ernste und der Überlegung nicht abgeneigte Gemüter verblendete diese Bewegung, denn auch die längst verrosteten Saiten der georgischen Dichterlaute erklangen von neuem und ihre Töne

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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/58&oldid=- (Version vom 1.8.2018)