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weder jene paradiesischen Landschaften, die die Zierde Georgiens sind, noch seinen Fruchtreichtum, denn sein felsiger Boden bringt nur kärgliche Frucht hervor. Die Natur hat also den Armenier nicht verweichlicht, sondern sein Organismus hat sich vielmehr im Kampfe mit ihr gestählt: er ist ausdauernd, geduldig und mit weniger Einbildungskraft begabt als der blühende und fruchtbare Thäler bewohnende Georgier. Reichtum an Ackerland besitzt der Armenier nicht und ist daher genötigt durch Gewerbe und Handel sein Brot zu verdienen. Auch hat sich in ihm eine gewisse Schlauheit ausgebildet, denn die seit Jahrhunderten dauernden Bedrückungen, die sein Volk von den Persern und Türken erleiden musste, haben in ihm das Aufrichtigkeitsgefühl erstickt und ihn Heuchelei gelehrt. Es ist das eine Eigenschaft, die für stolze und eitle Gegner stets gefährlich ist und solche haben auch die Armenier fast überall, wo sie sich eine zweite Heimat gegründet haben. Zudem besitzt der Armenier noch eine beträchtliche Dose von Habgier, die gewöhnlich Völkern eigen ist, welche aus ihrem Vaterlande verdrängt in fremden Ländern ihr Dasein fristen müssen. Eine derartige Lebenslage bringt fast immer eine rege Gewinnsucht hervor, denn ohne dauerhafte Grundlage seiner Existenz bangt dem Menschen um seine Zukunft und er strebt daher nach schneller Bereicherung, um wenigstens im Gelde einen Stützpunkt zu haben, der ihm anderweitig fehlt. Wie sehr die Armenier diesem Umstande ihre Aufmerksamkeit widmen, sieht man in den im ganzen Oriente bestehenden Verhältnissen, wo die Armenier die Herren des Handels sind und die grössten Kapitale in ihren Händen haben.

Mit einem Volke, das seine Stellung so nachhaltig zu befestigen und zu schützen weiss, ist es für die gutherzigen, leichtgläubigen und zur Verschwendung geneigten Georgier nicht leicht den Wettstreit auszuhalten. Daher vermindern sich auch ihre Besitztümer mit jedem Jahre,

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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/42&oldid=- (Version vom 1.8.2018)