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seine Abspiegelung, denn angesichts des damals allgemein herrschenden “Wohlstandes und einer gewissen behäbigen Zufriedenheit mussten alle Bestrebungen nach einer Änderung der Dinge völlig überflüssig sein und daher auch jegliche Zukunftspoesie fehlen.

Fast alle im zwölften Jahrhundert entstandenen Geisteserzeugnisse der Georgier spiegeln das damalige Leben ab und geben den Gefühlen und Anschauungen der an demselben teilnehmenden Gesellschaft Ausdruck. Zunächst war es eine stark entwickelte und mit Vorliebe gepflegte lyrische Poesie, in welcher diese Lebensmomente widerhallten, aber von diesen Gemütsergüssen ist heute fast jede Spur geschwunden und nur in anderen zeitgenössischen Litteraturdenkmälern findet sich der Beweis, dass die Lyrik wirklich im zwölften Jahrhundert in Georgien geblüht hat.

Ein bleibenderes Dasein erwarb sich die Epik der damaligen Epoche, denn mehrere wertvolle Werke dieser Art haben sich bis auf unsere Tage erhalten und sind noch heute eine Zierde des georgischen Parnasses. In ihnen liegt die Glanzzeit des mittelalterlichen Georgiens verewigt da und sie zeugen mehr für seinen damaligen Kulturzustand und sein rüstiges Leben als alle geschichtlichen Überlieferungen.

Das bedeutendste Epos aus der klassischen Epoche, die grösste dichterische Schöpfung der Georgier ist das „Wepchwis Tkaosani“ der „Mann im Tigerfelle“ von Schota Rustaweli. In schwungvollen, meisterhaft gefeilten Versen schildert in ihm der Dichter das zeitgenössische Leben seiner Landsleute, verlegt jedoch, um seiner Erzählung einen höheren poetischen Reiz zu verleihen, die Handlung nach Arabien. Dadurch verliert jedoch seine Schilderung nichts an lokaler Färbung, Land, Leute und Sitten sind georgisch und der mit der Geschichte Georgiens vertraute Leser erkennt sogar in den Haupthelden

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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/100&oldid=- (Version vom 1.8.2018)