Von den beiden kleineren im Text wiedergegebenen Gemälden des Meisters hat das eine, „die Findung Mosis“ betitelt, vollkommen den Charakter einer genreartigen, sittenbildlichen Schilderung aus dem Leben der damaligen Zeit. Bei einer Spazierfahrt an den Ufern der Brenta begegnet einer Prinzessin ein anmutiges Abenteuer; im Schilfe des Wassers ist in einem Korbe ein Knäblein gefunden worden; eine Dienerin der Fürstin hat es herbeigebracht und zeigt es ihr knieend, indem eine andere das verhüllende Tuch von dem blühenden Körper des Kindes zurückschlägt. Die Prinzessin, umgeben von drei jugendlichen Edeldamen, blickt in vornehmer, gemessener Haltung, aber doch teilnehmend und aufmerksam auf den schönen Findling. Ganz links zur Dienerschaft gehörig zwei Neger, der eine von zwerghafter Gestalt mit den Hunden an der Leine, rechts zwei stattliche Hellebardiere und die nur zur Hälfte sichtbare Magd mit dem Korbe, in dem das Kind gefunden wurde. Eine hohe Baumgruppe zur Linken, rechts in der Ferne am Ufer des Flusses eine Stadt mit breit gespannter Brücke bilden den reichen Hintergrund der interessanten Szene. Abgesehen von dem novellistischen Reiz fesselt die Schilderung durch alle die glänzenden der Kunst Paolos eigentümlichen malerischen Vorzüge. – Das andere Bild, als Gegenstück zu diesem gemalt, „der Hauptmann von Kapernaum“, schildert das biblische Ereigniss gleichfalls wie einen Vorgang der damaligen Gegenwart.
*
Nicht lange nachdem in Venedig die Glanzepoche des Cinquecento begonnen hatte, trat in einer andern Gegend Oberitaliens ein grosser Meister ans Licht, der den koloristischen Stil in einer neuen, von der Art der Venezianer wesentlich verschiedenen Weise zur glänzendsten Ausbildung brachte, der Schöpfer eines neuen malerischen Ideals: Antonio Allegri da Correggio (geb. um 1494 in der kleinen Stadt Correggio in der Nähe von Modena, nach der er seinen Beinamen erhielt, gest. 1536). Sein frühestes sicher beglaubigtes Werk ist die Madonna mit dem heiligen Franziskus in der dresdner Galerie, entstanden 1514–1515, ein Werk, das als Dokument seines jugendlichen Schaffens von um so grösserer Bedeutung ist, je dürftiger und unzuverlässiger die schriftlichen Nachrichten über Correggios künstlerischen Entwicklungsgang sind. Das Bild hat schon durchaus das Gepräge einer Meisterschöpfung, obwohl es den Meister noch keineswegs in seiner vollen Eigenart und Selbständigkeit zeigt. Es hat noch gewisse Merkmale der vorangehenden Kunstperiode, des Quattrocento. (S. d. Abb.)
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/49&oldid=- (Version vom 27.12.2024)