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vergebliches zu unternehmen, oder die Ehre suchen, seine Belesenheit auch zur Unzeit zu zeigen. Eben der äsopische Witz, den das den Wissenschaften günstige Deutschland itzt liebt, ward von den Deutschen schon hochgeschätzet, ehe sie die Wissenschaften noch kannten; und die Fabel gefiel ihnen, ehe sie die Regeln der Kunst wußten. Dieses beweisen unter andern die sehr alten Fabeln eines Ungenannten, von welchen ich itzt reden, und zugleich einige Exempel anführen will. Ich meyne diejenigen Fabeln, welche uns der Herr Doctor und Professor der Philosophie zu Straßburg, Johann Georg Scherz, in zehn Disputationen, die er von 1704 bis 1710 gehalten, aus einem alten Manuscripte geliefert, und mit einigen critischen und moralischen Anmerkungen versehen hat. Er hat von den Fabeln des alten Ungenannten ein und funfzig Stücke herausgegeben[1]. Es ist nach den Umständen, die Herr Scherz angiebt[2], sehr wahrscheinlich, daß dieser Ungenannte zu Kayser Friedrichs II. Zeiten gelebet hat. Und wenn wir auch sonst keine Merkmale hätten: so würden uns doch die Beschaffenheit der Sprache und Orthographie, und die nachdrückliche und kräftige Schreibart, deren sich dieser Dichter bedienet, schon überführen, daß er nicht lange nach den guten Zeiten Friedrichs Barbarossä gelebet haben könnte. Damals war die deutsche Poesie nicht allein an den Höfen sehr gelitten, sondern auch selbst eine Beschäfftigung der Fürsten und großen Herren; und hierdurch gelangte sie zu einer gewissen Stärke und Anmuth, deren sich die nachfolgenden Jahrhunderte


  1. Eben diese Fabeln hat man in einem papiernen Manuscripte auf der Bürgerbibliothek zu Zürich. S. die Sammlung geistvoller Schriften. VII. St. 48. S.
  2. S. Scherzii Philosophiae moralis Germanorum medii aeui specimen primum.
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Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen. M. G. Weidmanns Erben und Reich und Caspar Fritsch, Leipzig 1769, Seite XIV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gellert_Schriften_1_A_015.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)