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     Oft ist es Kunst und Eigenliebe,

Was andern strenge Tugend scheint.
Der Trieb des Neids, der Schmähsucht Triebe
Erweckten dir so manchen Feind;
Du wirst behutsam, schränkst dich ein,

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Fliehst nicht die Schmähsucht, nur den Schein.


     Du denkst, weil Dinge dich nicht rühren,
Durch die der Andern Tugend fällt:
So werde nichts dein Herz verführen;
Doch jedes Herz hat seine Welt.

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Den, welchen Stand und Gold nicht rührt,

Hat oft ein Blick, ein Wort verführt.

     Oft schläft der Trieb in deinem Herzen.
Du scheinst von Rachsucht dir befreyt;
Itzt sollst du eine Schmach verschmerzen,

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Und sieh, dein Herz wallt auf und dräut,

Und schilt so lieblos und so hart,
Als es zuerst gescholten ward.

     Oft denkt, wenn wir der Stille pflegen,
Das Herz im Stillen tugendhaft.

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Kaum lachet uns die Welt entgegen:

So regt sich unsre Leidenschaft.
Wir werden im Geräusche schwach,
Und geben endlich strafbar nach.

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Geistliche Oden und Lieder. in der Weidmannischen Handlung, Leipzig 1757, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geistliche_Oden_und_Lieder-Gellert.djvu/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)