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     Wenn ich den Geiz aus Furcht der Schande fliehe,

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Aus Weichlichkeit mich wohlzuthun bemühe,

Und mäßig bin, gesund zu seyn;
Wenn ich die Rach aus Eigennutze hasse,
Der Ehrfucht Pfad aus Trägheit nur verlasse;
Was ist an dieser Tugend mein?

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     Und, Gott, wie oft sind unsre besten Triebe

Nicht Frömmigkeit, nicht Früchte deiner Liebe,
Nur Früchte der Natur und Zeit!
Wenn fühlen wir der Tugend ganze Würde?
Wenn ist dein Joch uns eine leichte Bürde,

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Und dein Gebot Zufriedenheit?


     Doch, Herr mein Gott, wenn auch zu deiner Ehre
Mein Herze rein, rein meine Tugend wäre;
Weß ist denn dieses Eigenthum?
Wer ließ mich früh zur Tugend unterrichten,

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Mein Glück mich sehn in meines Lebens Pflichten,

Und im Gehorsam meinen Ruhm?

     Wer gab mir Muth, Herr, dein Gebot zu lieben?
Wer gab mir Kraft, es freudig auszuüben,
Und in Versuchung Schild und Sieg?

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Weß ist der Quell, der mich mit Weisheit tränkte?

Und weß der Freund, der mich zum Guten lenkte,
Und mir den Fehler nicht verschwieg?

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Geistliche Oden und Lieder. Weidmannische Handlung, Leipzig 1757, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geistliche_Oden_und_Lieder-Gellert.djvu/131&oldid=- (Version vom 31.7.2018)