Seite:Friedlaender-Interessante Kriminal-Prozesse-Band 7 (1912).djvu/159

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7

erlangt. Am folgenden Tage wurde über Berlin, Potsdam und zweimeiligen Umkreis der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt und noch an demselben Tage 45 Personen ausgewiesen. Wenige Tage darauf wurde das Erscheinen aller sozialdemokratischen Zeitungen im ganzen Reiche verboten, alle sozialdemokratischen Vereine und Gewerkschaften aufgelöst, alle sozialdemokratischen Druckereien, Bücher, Broschüren und Lieder beschlagnahmt, alle Versammlungen, von denen vermutet wurde, sie könnten einen sozialdemokratischen Charakter annehmen, von vornherein verboten oder während der Versammlung polizeilich aufgelöst. Die Ausweisungen, nicht nur in Berlin, sondern in allen Orten, über die der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt war, häuften sich. Es herrschte eine Zeitlang gewissermaßen politische Grabesstille. Zu dieser Zeit begann der Anarchismus, der bis dahin in Deutschland fast unbekannt war, mächtig ins Kraut zu schießen. Der frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Johann Most, der mehrere Jahre Chefredakteur der sozialdemokratischen „Berliner freien Presse“ war, hatte wenige Tage vor dem Nobilingattentat in seinem Wahlkreise Chemnitz eine Rede gehalten. Er wurde deshalb, noch während er sprach, auf dem Podium verhaftet und von der Chemnitzer Strafkammer wegen Aufreizung zu Gewalttätigkeiten zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Nachdem Most diese Strafe verbüßt hatte, kam er nach Berlin. Hier erhielt er an demselben Tage, an dem er eingetroffen war, den polizeilichen Befehl, binnen drei Stunden das Gebiet des „Kleinen Belagerungszustandes“ zu verlassen, wenn er nicht verhaftet und wegen Bannbruchs bestraft werden wolle. Most begab sich nach London, schloß sich dort sogleich den Anarchisten an und gründete das bekannte Anarchistenorgan: die noch jetzt in Newyork erscheinende „Freiheit“. Im August 1880 fand auf dem halbverfallenen Schloß Wyden in der Schweiz der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie statt. Auf diesem wurde beschlossen:

Empfohlene Zitierweise:
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_7_(1912).djvu/159&oldid=- (Version vom 16.7.2024)