Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6 | |
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Wer länger als ein Menschenalter fast täglich genötigt ist, sich in beruflicher Eigenschaft in den Gerichtssälen zu bewegen und auch die Stätten zu betreten, auf denen der Scharfrichter seines grauenvollen Amtes waltet, der wird naturgemäß etwas abgestumpft. Allein wenn eine junge Dame, die zu den gebildeten Kreisen gehört, eine Dame der Gesellschaft, die jugendliche Tochter eines Bürgermeisters auf die Anklagebank geführt wird, unter der Beschuldigung, ein Verbrechen begangen zu haben, wie es entsetzlicher nicht gedacht werden kann, dann ergreift auch den abgestumpftesten und gleichgültigsten Gerichtsberichterstatter ein heftiges Schaudern. Der Fall „Grete Beier“ wirft auf die Sittenzustände im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts ein um so traurigeres Schlaglicht, da nicht nur das Töchterlein eines Bürgermeisters, sondern auch der Bürgermeister selbst, der durch das Vertrauen seiner Mitbürger zum Oberhaupt der Stadt berufen worden war, der eidlich gelobt hatte, das Wohl der Stadt zu fördern und für die öffentliche Sicherheit Sorge zu tragen, sich nebst seiner Gattin der ärgsten Verbrechen schuldig gemacht hatte. Eine Bürgermeistersfamilie im Herzen Deutschlands, eine Verbrecherfamilie, fürwahr ein Kulturbild, das Abscheu und Entsetzen erregen muß. An einem Knotenpunkt der sächsischen Staatsbahn, in der Nähe der sächsischen Kreisstadt Freiberg, liegt die kleine Bergstadt Brand. Der Bürgermeister dieses Städtchens erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Er hatte viel für die Stadt getan. Unter seiner Amtsführung wurde eine
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/282&oldid=- (Version vom 31.7.2018)