Seite:Friedlaender-Interessante Kriminal-Prozesse-Band 5 (1912).djvu/269

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5

Die Sucht, sich als Weib zu verkleiden, machte sich bei dem Angeklagten schon in sehr frühem Alter bemerkbar. Nach den Aussagen der Mutter sträubte er sich heftig, als er als Kind die ersten Hosen bekommen sollte. Schon bevor er in die Schule ging, band er sich mit Vorliebe Schürzen vor, zog sich die Kleider der Schwester an, die er nachschleppen ließ, und setzte sich deren Hüte auf. Der Sachverständige führte noch eine Anzahl weiblicher Eigenschaften des Angeklagten an, die auf sein seelisches Zwittertum hindeuten. Auf die Frage des Arztes, welchen Beruf er ergreifen möchte, erwiderte der Angekl.: „Ich möchte eine Dame sein und geheiratet werden.“ Inwieweit die transvestitischen Neigungen im Einzelfall beherrscht werden können, hängt vor allem von dem Grade der neuropathischen Konstitution der Betreffenden ab, der damit zusammenhängenden Stärke der Hemmungen, die sehr verschieden ist. Im vorliegenden Fall ist die erbliche Belastung eine sehr beträchtliche. Mit ihr hängt die exzentrische Abenteuersucht des Angeklagten zusammen. Trotz seiner großen Jugend hat er bereits ein sehr bewegtes Leben hinter sich. So war er vor einem Jahre vier Monate in Texas, wo er sich u. a. als Serpentintänzerin produzierte; einmal war er von einem Konzert so entzückt, daß er dem Musiker 5 Tage nach Rußland nachreiste, um ihn nochmals zu hören. Auch Verkleidungskomödien, ähnlich dem Potsdamer Fall, hat er wiederholt ausgeführt. Vor allem reizte es ihn bei diesen Abenteuern, für eine wirkliche Dame gehalten zu werden. Das ist für die Transvestiten bezeichnend, bei denen sich die merkwürdigsten Lebensschicksale vorfinden. Der Sachverständige führte einige Fälle aus seiner Erfahrung an. So wurde vor einigen Jahren in Berlin auf einem Bau ein Anstreicher sistiert, der in Wirklichkeit eine Frau war. Diese Person war jahrelang unerkannt als Mann auf einem norwegischen Wallfischfänger gefahren. Vor wenigen Tagen erhielt er (Dr. Hirschfeld) die Photographie

Empfohlene Zitierweise:
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_5_(1912).djvu/269&oldid=- (Version vom 1.8.2018)