Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 4 | |
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ausgesucht wurden, so wurde doch bei der Auswahl sehr wenig sorgfältig verfahren. Böse, böse Burschen waren darunter, Burschen, die als Päderasten und Erpresser bestraft worden waren, Zuhälterei versucht hatten, sich der Bedrohung, der Störung des Gottesdienstes schuldig gemacht hatten – und dann die große Masse schwerer und schwerster Vergehen gegen das Eigentum. Wenn solche Jungen im Alter von 18–20 Jahren noch erziehbar sind, was fraglich erscheint, so sind pädagogische Genies dazu nötig, während in Mieltschin ganz unfähige Dilettanten als „Erzieher“ tätig waren. Pastor Breithaupt hatte gewiß den besten Willen und fühlte sich in Mieltschin als „Knopf auf dem Kirchturm“, aber im Kampf mit den Jungen unterlag er. Seine einzigen Kampfesmittel waren Hunger, Fesseln, Peitschen. Auch an friedlichen Bildern fehlte es nicht: er ging vielfach gut mit den Jungen um und brachte ihnen mehr Liebe entgegen, wie mancher von ihnen wohl sein Leben lang nicht erfahren haben mag. Kam er aber hiermit nicht durch, so griff er zu gewaltsamen Zuchtmitteln und wurde roh und brutal bis zur Grausamkeit. Er strafte hart aus geringstem Anlaß, ja oft ohne jeden Anlaß. Gewiß war’s ihm nicht zu verdenken, daß gegenüber Burschen, die ihm patzig entgegentraten, ihm die Hand lose wurde und er zu sofortiger Züchtigung einen Jagdhieb gab. Was aber soll man dazu sagen, daß er für einen Zwiebeldiebstahl, für Zigarettenrauchen, für Übertretung des Sprech- und Sitzverbotes 50 und mehr Hiebe austeilen ließ. Und dann der Fall, wo Bünger und Piakowski zwei gefundene Eier essen, ohne sich etwas dabei zu denken, und jeder 100 Peitschenhiebe erhalten, so daß sie wochenlang nicht sitzen konnten! Breithaupt hat auch ohne Untersuchung gezüchtigt, und wie mancher mag da unschuldig gezüchtigt worden sein. Das ist ja das Unglück, daß Breithaupt auf ganz gewissenlose Denunziationen von Burschen, die sich vielleicht beliebt machen wollten, einging. Richtig wäre es gewesen, solche gewissenlose Lumpen selber zu
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 4. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_4_(1911).djvu/287&oldid=- (Version vom 19.12.2023)