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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 4

den Saal gerufen. Er war ein kleiner sehr schwächlicher Mensch, der jedoch einen anständigen Eindruck machte. Er erzählte, oftmals vom Weinen unterbrochen: Sofort als er nach Mieltschin kam, wurde er schon auf dem Bahnhof von Breithaupt mit argen Scheltworten empfangen. Es sei in Mieltschin im allgemeinen nicht schlecht gewesen, aber vor Prügel habe er es nicht ausgehalten. Er habe schon am ersten Tage der Züchtigung eines anderen Zöglings beiwohnen müssen und habe dabei laut geweint. Er konnte das nicht mit ansehen. Da habe der Pastor gesagt: „Hund, wenn du nicht still bist, dann bekommst du auch 50 Hiebe.“ Er habe stets zwei Paar Hosen getragen und hatte keineswegs die Absicht, zu entlaufen. Er habe auch das Messer dem Maurer nicht genommen. Er sei jedoch so viel geschlagen, angekettet und in den dunklen Keller gesperrt worden und habe nur Wasser und Brot bekommen, daß er schließlich fälschlich zugab, daß Messer gestohlen zu haben. Es gelang ihm schließlich, sich aus dem Keller zu befreien und mit den Ketten zu entlaufen. Er habe sich zunächst ins Korn gelegt und dort sich von den Fesseln befreit. Alsdann habe er sich bettelnd bis Berlin durchgeschlagen. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge: Er sei unterwegs von der Polizei aufgegriffen worden und als er dieser sagte, daß er vom Bau komme, habe ihm die Polizei Fahrgeld nach Berlin gegeben. Eine Anzahl Fürsorgezöglinge bestätigten die Bekundungen des Ruppert. Vernommen wurde dann Dr. med. Dönitz, der in der Königlichen Poliklinik Ruppert zuerst am 7. Juni untersucht hatte. Gefunden hatte er damals alte Wunden in der Gesäßgegend, Striemen auf dem Rücken und Hautabschürfungen an den Armen, grüne Flecke an den Schenkeln usw. Beide Gesäßbacken seien ganz hart geschwollen gewesen. Lebensgefährlich sei die Züchtigung nicht gewesen, aber außerordentlich schwer und roh. Dr. Bernstein, der Ruppert noch an demselben Tage untersuchte, nach dem der Junge auch ihm

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 4. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_4_(1911).djvu/284&oldid=- (Version vom 19.12.2023)