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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3

Mann, den ich heiraten sollte, ermorden sie!“ Das ist keine hysterische Lüge, sondern eine erdachte Lüge, die einen wohl berechneten Zweck hatte. Die Tarnowska und Prilukow haben beide in ihrer Abgefeimtheit wohl gewußt, daß sie ihr Weg zum scheußlichsten aller Verbrechen, dem Morde, führte. – Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Diena (für die Angeklagte Tarnowska): Ich bitte die Herren Geschworenen, sachlich und ohne Voreingenommenheit die Schuldfragen zu prüfen. Ich fühle mich um so mehr verpflichtet, diesen Appell an die Herren Geschworenen zu richten, da man bereits zur Legende Zuflucht genommen hat. Dadurch kam ein Milieu zustande, daß einem gerechten Urteil wenig günstig war. Prilukow und Naumow erschienen als die Quellen der Wahrheit; man bedachte nicht, daß auch sie Angeklagte seien. Allerdings hat die Angeklagte, Gräfin Tarnowska, vielfach Dinge geleugnet, die sie besser zugegeben hätte. Sie kannte z. B. die Herkunft des von Prilukow gestohlenen Geldes, zum mindesten mußte sie die Herkunft vermuten. Sie hätte auch besser getan, unumwunden zuzugeben, daß sie die 28 Briefe an Prilukow geschrieben habe. Die Schuld am Verbrechen selbst hat aber Prilukow. Auffällig ist es jedenfalls, daß in dem Zeugnis der Moskauer Rechtsanwaltskammer nichts über die Moralität und die finanziellen Verhältnisse Prilukows steht. Der Gedanke an das Testament und die Versicherung kann nimmermehr von einem Weibe gekommen sein, sondern nur von einem rechtskundigen Manne. Der Telegrammwechsel beweist, daß Prilukow der herrschende und nicht der beherrschte Teil war, und daß er das Verbrechen geleitet hat. Alsdann ging der Verteidiger zum zweiten Punkte seines Plaidoyers über, nämlich, daß die Tarnowska als nicht zurechnungsfähig angesehen werden müßte. Selbst die von der Staatsanwaltschaft berufenen psychiatrischen Sachverständigen haben auf verminderte Zurechnungsfähigkeit erkannt. Es gehe doch nicht an, daß der Staatsanwalt nachträglich noch seine eigenen Sachverständigen

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/80&oldid=- (Version vom 5.1.2023)