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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3

verstand, wußte er doch, daß etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Die Zeugin weinte heftig. Auf weiteres Befragen erklärte sie, daß sie die Tarnowska seit etwa sechs oder sieben Jahre kenne. Im Juni 1907 schrieb ihr ihr Sohn von seiner Absicht, die Tarnowska zu heiraten, und bat um ihren Segen. Sie antwortete: Ich will Deinem Glück nicht entgegenstehen, aber bist Du, mein Sohn, wirklich überzeugt, daß diese schöne Frau mit ihrer stürmischen Vergangenheit bereit sein wird, ein neues Leben zu beginnen und sich Dir und Deinem Sohne zu widmen? Wenn sie dazu imstande ist, so möge Gott mit Dir sein; ich werde nicht dagegen sein. Aber ich fürchte außer dem Übrigen, daß die Gesellschaft von Orlow sie, und folglich auch Dich, ausschließen wird. Verstehe mich wohl: ihr trauriges Vorleben, der Prozeß ihres Mannes haben so viel Gerede verursacht, daß es leicht unangenehme Folgen für sie haben kann. Nehmen wir aber an, daß sie mit so viel gesundem Menschenverstande und Taktgefühl ausgerüstet ist, um zu begreifen, wie sie sich zu benehmen hat, um die Leute für sich zu gewinnen, dann ist ja alles gut. Wenn nur Du und Granja (der kleine Sohn des Ermordeten) glücklich seid. Ein weiterer Brief der Zeugin gelangte zur Verlesung, in dem sie die jetzige Angeklagte und damalige Braut ihres Sohnes in mütterlich herzlichen Worten zu sich aufs Landgut einlud, zur selben Zeit, als schon der Plan zur Ermordung ihres Sohnes gefaßt war. Die Tarnowska, so etwa fuhr die Zeugin fort, besitze nach ihrer Überzeugung eine außerordentliche Macht über andere. So habe sie über den Sohn ihres Sohnes eine Macht besessen, daß der Knabe bald nach dem Tode seiner heißgeliebten Mutter diese vergessen und nur noch von der Tarnowska gesprochen habe. Auch in ihrer Abwesenheit habe er überall ihre Augen auf sich gerichtet gesehen. Er betete sie an. Als er dann erfuhr, daß sie die Ursache des Todes seines Vaters wäre, erschütterte eine furchtbare Krise das kindliche Gemüt. Er warf alle Geschenke

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/58&oldid=- (Version vom 5.1.2023)