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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3

daß sie nicht einmal angedeutet werden können. – Einige Pflegeschwestern bekundeten: Eine so hochgradige Hysterie, wie bei der Gräfin Tarnowska, hätten sie noch bei keiner Gefangenen beobachtet. Ein kleines Erdbeben, das im Anfang 1909 in Venedig verspürt wurde, verursachte ihr einen heillosen Schrecken. – Es wurde alsdann ein in der Hinterlassenschaft des ermordeten Komarowski gefundener Brief verlesen. In diesem bezeichnete sich die Tarnowska als seine „keusche Braut“. – Auf Befragen des Vorsitzenden gab die Tarnowska zu, daß zwischen ihr, Naumow und dem ermordeten Komarowski einige Male Unterhaltungen über Sadismus stattgefunden haben. – Professor Dr. Trajon: Die Tarnowska werde ganz besonders während ihrer monatlichen Perioden von nervösen Störungen befallen. Gewisse Schmerzerscheinungen lassen auch auf innere Verletzungen schließen. Die Zeugen Dr. Tommasini und Dr. Degni stellten bei der Angeklagten ein häufiges Vorkommen von Schlägen im Gehirn (tonfi al cervello) fest. Zur Kur haben sie Eisenpräparate und Elektrizität angewendet, aber mit geringem Erfolge. Der Gemütszustand der Angeklagten sei sehr schwankend, bald äußerst niedergedrückt, bald heftig. Der Zeuge Prof. Giordano bestätigte diese Mitteilungen und fügte hinzu, daß er zur Kur einen chirurgischen Eingriff für nötig halte. Die Krankenschwester Priorin Elena Conta berichtete von schweren Nervenkrisen der Angeklagten. Bei einer solchen sei sie einmal kalt und steif geworden und habe eine Viertelstunde lang mit offenen Augen und Mund dagelegen, so daß man sie für tot gehalten habe. Auf die Frage des Staatsanwaltes, ob derartige Krisen auch bei anderen Gefangenen vorkämen, antwortete die Zeugin: „Ja!“ Der Sachverständige Prof. Rossi rief dazwischen: „Was will das bedeuten? Es beweist nur, daß man hysterische Frauen verurteilt hat!“ Schwester Bonisola bezeugte, daß die Tarnowska in den Pausen während des Prozesses Nervenkrisen hatte, wobei auch einmal ein Arzt gerufen werden mußte.

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/55&oldid=- (Version vom 5.1.2023)