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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2

Gerichtsarzt Dr. Klein (Essen) erstattete folgendes Gutachten: Er habe bei dem Angeklagten einen ganz abnormen körperlichen Befund wahrgenommen. Die linke Körperhälfte des Angeklagten weise eine wesentlich erhöhte Empfindlichkeit, die rechte Körperhälfte dagegen eine verminderte Empfindlichkeit auf, und zwar derartig, daß sie selbst gegen Nadelstiche unempfindlich sei. Der Angeklagte war von Kindheit an krank. Seine Schädelbildung sei ganz abnorm, so daß das Wachstum des Gehirns beeinträchtigt sei. Er habe erst mit 4 Jahren laufen gelernt und an der englischen Krankheit gelitten. Der Vater sei ein Trinker und schwermütig gewesen. Die Ehe der Eltern war infolgedessen getrübt. – Der Angeklagte sank hierbei auf die Anklagebank zurück und begann laut und heftig zu weinen. – Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung, ließ den Zuhörerraum räumen und die Fenster öffnen. Der Angeklagte legte sich auf die Anklagebank und weinte heftig. Nachdem er sich beruhigt hatte, wurde dem Publikum der Zutritt wieder gestattet. Der Zuhörerraum war sofort wieder Kopf an Kopf gefüllt. Aber auch der Innenraum war derartig überfüllt, daß die Vertreter der Presse arg belästigt wurden. – Gerichtsarzt Dr. Klein fuhr alsdann fort: Der Puls des Angeklagten ist 100, bisweilen 140, 150 und darüber. Dabei ist der Puls klein. Seine Pupillen und Nervenzustand sind abnorm. Der Großvater des Angeklagten war schwermütig. Die Mutter war insbesondere, während sie mit dem Angeklagten ging, schwermütig. Der Angeklagte ist daher zweifellos erblich belastet. Der Angeklagte hat trotzdem in der Schule und Fortbildungsschule Fortschritte gemacht, er hat, seinem Bildungsgrade entsprechend, seine Berufsarbeiten zur großen Zufriedenheit erledigt. Der Angeklagte leidet an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit; melancholische Erscheinungen sind aber beim Angeklagten im Gefängnis nicht hervorgetreten. Der Angeklagte leidet an Renommiersucht, er hat seinen Mitgefangenen vorgeredet, er habe bei den Paderborner Husaren gedient und unter Kaiser Karl dem Großen ein Manöver

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_2_(1911).djvu/150&oldid=- (Version vom 1.8.2018)