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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10

Mädchen, jeder Situation gewachsen, sie ist ein Berliner Kind im besten Sinne des Wortes, und sie mußte sich von selbst sagen, daß, wenn sie sich dem Reimann hingab, für diesen der Appetit mit dem Essen kommen mußte. Dieses Doppelspiel, das die Angeklagte spielte, hätte jeden normalen Menschen schließlich in den Zustand bringen können, in dem sich die Angeklagte befand, als sie nach und nach bis zu dem Grade der Verzweiflung kam, wo sie dem Reimann schrieb: „Du oder ich; einer von uns ist zuviel auf der Welt.“ Als dann Reimann den anonymen Brief an den Mann schrieb, der ihr ganzes Glück war, als Reimann diese letzte, gemeinste Waffe aller Schwächlinge in Anwendung gebracht hatte, da reifte in ihr der Entschluß, der Sache ein Ende zu machen, so oder so! Die Situation für sie war unhaltbar, sie setzte ihr eigenes Leben ein, wollte aber auch den Vernichter ihres Lebensglückes mit aus dem Leben nehmen. Wenn ein Mädchen, das so drangsaliert und zum äußersten getrieben wird, zur Selbstbefreiung schreitet, so ist das erklärlich, aber strafbar. Es ist geradezu unheimlich, wie Reimann sie gequält und verfolgt hat. Er hatte ihr mit der Vernichtung ihrer Existenz gedroht, sie stand dem schonungslos vorgehenden Manne machtlos gegenüber. Da ist der übervolle Becher zum Überlaufen gekommen. Ihr Plan ging nicht mehr dahin: „Du oder ich“, sondern „du und ich“. Die Angeklagte hat die Tat ganz planvoll vorbereitet. Man denke nur daran, daß sie das Zusammentreffen mit Reimann von 8 auf 10 Uhr verlegt, und daß das Mädchen, das in den Tod gehen wollte, auch noch daran dachte, den Hausschlüssel des Dr. St. zurückzuverlangen, und die Verlegung der Zeit damit erklären will, daß sie sich schämte, mit dem R. sich noch sehen zu lassen. Es wäre ja doch unerhört, wenn jemand straflos bleiben sollte, weil er es versteht, über die entscheidenden Minuten den Schleier des Vergessens zu breiten, und einfach sagt: er weiß davon nichts mehr. Sie weiß sicher

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/262&oldid=- (Version vom 6.3.2023)