erwidert. Bald fiel den Zeugen die große Theilnahme, bald die Theilnahmslosigkeit auf. Jedenfalls hat die Verhandlung ergeben, daß kein Zeuge den Hegmann‘schen Eheleuten so viel Theilnahme bekundet hat, als gerade der Angeklagte. Dieser hat sich aber auch als ein in jeder Beziehung wahrheitsliebender Mann erwiesen. Nicht eine Unwahrheit konnte ihm nachgewiesen werden. Als ihm gesagt wurde, er solle bei unerheblichen Dingen doch lieber zugestehen und sich nicht auf’s Leugnen legen, da antwortete er: Ich kann doch nichts zugeben, was nicht wahr ist.“ Der Vertheidiger geht hierauf des Näheren auf die Beleuchtung der Zeugenaussagen ein und fährt alsdann fort: Ich kann die Hoffnung des Herrn Ersten Staatsanwalts auch nicht theilen, daß die antisemitische Hetze mit diesem Prozeß ein Ende haben wird. Ich fürchte: es wird weiter gelogen werden. Es ist eine allbekannte Thatsache, daß, um eine Wahrheit zu verwischen, mindestens 7 Lügen nothwendig sind. Ich bin aber der Meinung, es sind 7 mal 70 Lügen nothwendig, um das Lügengebäude der Antisemiten aufrecht zu erhalten. Allein die große Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit der Sie, meine Herren Geschworenen, den Verhandlungen gefolgt sind, giebt mir die Gewähr, daß, wenn auch die Lügen nicht verstummen werden, so doch in diesem Saale Recht und Gerechtigkeit geübt werden wird. Ich gebe mich ferner der Hoffnung hin, daß mit diesem Prozeß das alte Blutmärchen aus der Welt verschwinden wird. Wenn Sie aus diesem Saale fortgehen, dann ersuche ich Sie, das Bild eines Mannes in Ihr Herz aufzunehmen, der, obwohl seit so langer Zeit der Freiheit beraubt, seiner Familie entrissen, und durch eine wüste Hetze genöthigt sein wird, das bittere Brod des Almosens zu essen, sein Geschick mit Ergebung getragen hat, weil er weiß, daß er unschuldig ist, weil er weiß, daß die Wahrheit an den Tag kommen muß und daß in Preußen noch Recht und Gerechtigkeit geübt wird.
Ich kann meine Vertheidigung umsomehr abkürzen, da die Vertreter der Anklagebehörde in diesem Prozeß das schönste Recht der Staatsanwaltschaft ausgeübt haben, das nicht blos darin besteht, den Schuldigen zu verfolgen, sondern auch dem unschuldig Verfolgten ihren Schutz zu gewähren.
Es tritt hierauf eine längere Pause ein.
Hugo Friedländer: Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892. W. Startz, 1892 Cleve, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Der_Knabenmord_in_Xanten_(1892).djvu/141&oldid=- (Version vom 1.8.2018)