hörte nun, daß die Kernder’schen Eheleute wegen Mißhandlung einer Judenfrau vor das Landgericht zu Cleve geladen seien. Ich wollte daher diese Zeit benutzen, um den Knaben zu vernehmen. Ganz wider Erwarten war aber der Termin in Cleve sehr schnell beendet, und die Kernder’schen Eheleute kehrten schon gegen 1 Uhr Mittags nach Xanten zurück. Als ich den Knaben von einem Gendarmen holen ließ, sagte der alte Kernder: Ich lasse mein Kind nicht zu dem Untersuchungsrichter gehen. Die Mörder werden ja doch nicht bestraft, nur ehrliche Leute. Einige Zeit später ließ ich den kleinen Stephan Kernder mir von der Polizei vorführen. Die Aussage des Knaben geschah in einer Weise, daß ich die Ueberzeugung gewann: dem Knaben sei seine Aussage einstudirt. Der Knabe plapperte etwas ganz Unverständliches und Unzusammenhängendes, das ohne jeden Sinn war. Ich habe alsdann die Mutter vernommen. Diese fragte ich, wodurch der Knabe zu seiner Bekundung gekommen sei. Die Frau erzählte mir: Sie habe eines Morgen mit ihrem Manne über den Mord gesprochen. Der Knabe, der noch im Bett gelegen, habe aufgehorcht und gesagt: er wolle etwas erzählen. Da der Knabe zunächst mit der Sprache nicht heraus wollte, so habe sie zu demselben gesagt: „Sprich nur, der Buschhoff liegt schon im Thurm an der Kette.“ Ich fragte die Frau: wie sie zu einer solchen Bemerkung komme. Die Frau antwortete mir: „Es ist doch kein Blut bei der Leiche gefunden worden, da muß es doch der Jude gethan haben.“ Bei der ersten Vernehmung erzählte mir die Zeugin: der Knabe habe ihr gesagt, Buschhoff habe zu ihm einmal gesagt: wenn Du mir meine Steine beschädigst, so kommst Du in den Thurm.“ Bei ihrer zweiten Vernehmung sagte Frau Kernder: Buschhoff habe zu ihrem Sohne gesagt: „Wenn Du die Grabsteine beschädigst, dann kommst Du nicht blos in den Thurm, ich schneide dir auch den Hals ab“. Diese letztere Bemerkung hatte die Frau bei ihrer ersten Vernehmung nicht gethan. Ueberhaupt gewann ich die Ueberzeugung, daß viele Zeugen bei jeder Vernehmung immer mehr wußten. Sie haben sich ein Bild von zum Theil Erlebtem, zum Theil Gehörtem gemacht und sich so ein Phantasiegebilde geschaffen, das mit jeder Vernehmung ihnen immer klarer vor Augen trat. Die Leute hatten aber von vornherein die Ueberzeugung, daß Buschhoff der Thäter sein müsse, einen anderen Gedanken konnten sie garnicht fassen.
Hugo Friedländer: Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892. W. Startz, 1892 Cleve, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Der_Knabenmord_in_Xanten_(1892).djvu/103&oldid=- (Version vom 1.8.2018)