Seite:Freud Imago 9-1.djvu/20

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im Siebzehnten Jahrhundert. In: Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 9. Bd., H. 1, S. 1-34

abstoßend und unglaubwürdig wie die feminine Einstellung zum Vater und die aus ihr folgende Schwangerschaftsphantasie des Knaben. Wir können erst ohne Besorgnis und ohne Bedürfnis nach Entschuldigung von ihr reden, seitdem der sächsische Senatspräsident Daniel Paul Schreber die Geschichte seiner psychotischen Erkrankung und weitgehenden Herstellung bekannt gemacht hat[1]. Aus dieser unschätzbaren Veröffentlichung erfahren wir, daß der Herr Senatspräsident etwa um das fünfzigste Jahr seines Lebens die sichere Überzeugung bekam, daß Gott – der übrigens deutliche Züge seines Vaters, des verdienten Arztes Dr. Schreber an sich trägt – den Entschluß gefaßt, ihn zu entmannen, als Weib zu gebrauchen und aus ihm neue Menschen von Schreber’schem Geist entstehen zu lassen. (Er war selbst in seiner Ehe kinderlos geblieben.) An dem Sträuben gegen diese Absicht Gottes, welche ihm höchst ungerecht und „weltordnungswidrig“ vorkam, erkrankte er unter den Erscheinungen einer Paranoia, die sich aber im Laufe der Jahre bis auf einen geringen Rest rückbildete. Der geistvolle Verfasser seiner eigenen Krankengeschichte konnte wohl nicht ahnen, daß er in ihr ein typisches pathogenes Moment aufgedeckt hatte.

Dieses Sträuben gegen die Kastration oder die feminine Einstellung hat Alf. Adler aus seinen organischen Zusammenhängen gerissen, in seichte oder falsche Beziehungen zum Machtstreben gebracht und als „männlichen Protest“ selbständig hingestellt. Da eine Neurose immer nur aus dem Konflikt zweier Strebungen hervorgehen kann, ist es ebenso berechtigt, im männlichen Protest die Verursachung „aller“ Neurosen zu sehen, wie in der femininen Einstellung, gegen welche protestiert wird. Richtig ist, daß dieser männliche Protest einen regelmäßigen Anteil an der Charakterbildung hat, bei manchen Typen einen sehr großen, und daß er uns als scharfer Widerstand bei der Analyse neurotischer Männer entgegentritt. Die Psychoanalyse würdigt


  1. D. P. Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig 1903. Vgl. meine Analyse des Falles Schreber in Sammlung kl. Schriften z. Neurosenlehre, dritte Folge.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im Siebzehnten Jahrhundert. In: Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 9. Bd., H. 1, S. 1-34. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien 1923, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Imago_9-1.djvu/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)