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von Holtzendorff ein höchst dankenswerthes Verdienst erworben, indem er eine Art Autobiographie Lieber’s in deutscher Sprache herausgegeben hat. Dieselbe liefert in Form von Tagebuchauszügen und Briefen aus der ungeheuren Correspondenz, welche Lieber fast 50 Jahre lang mit den angesehensten und bedeutendsten Männern Europas und Amerikas führte, ein unschätzbares Material für die Beurtheilung dieses trefflichen Mannes.[1] Welchen Eindruck aber Holtzendorff selbst – gewiß ein klassischer Beurtheiler – von dem Wesen Lieber’s empfangen hat, das zeigen seine so überaus ehrenden Worte: „Er bezeichnet für mich einen Höhepunkt politischer Weltbildung, in welcher alle Geisteskräfte altklassischer Kultur, italienischer Kunstsinnigkeit, deutscher Wissenschaft, englischer Freiheitsliebe und nordamerikanischer Unabhängigkeit zur Einheit verschmolzen waren.“[2]

Franz Lieber ist unser Landsmann im engsten Sinne; sein viel bewegtes Leben nahm in Berlin seinen Anfang; er ist mit Spreewasser getauft. Am 18. März 1800 wurde er zu Berlin in einem alten Hause der Breiten Straße geboren. Sein Vater, ein biederer Eisenhändler, war weniger durch Geldes- als durch Kinderreichthum gesegnet. Franz war das zehnte von zwölf Kindern. Seine frühsten Erinnerungen knüpfen an die ereignißreichen Jahre von Preußens tiefstem Verfall und allmählicher Wiedergeburt an. In seinem elterlichen Hause herrschte ein ungemein patriotischer Geist, der sich naturgemäß auf den Knaben übertrug. Mit Inbrunst verrichtete er sein Abendgebet: „Gott wolle seiner Großmutter Husten heilen, den König segnen, und Schill den Sieg verleihen!“ Den Krieg von 1813/14 machten zwei seiner älteren Brüder als freiwillige Jäger mit; und als 1815 eines Tages der Vater mit den Worten in’s Zimmer trat: „Er ist wieder los“ (nämlich Napoleon von Elba), duldete


  1. „Franz Lieber. Aus den Denkwürdigkeiten eines Deutsch-Amerikaners“ (1800–1872). Auf Grundlage des englischen Textes von Thomas Sergeant Perry und in Verbindung mit Alfred Jachmann, herausgegeben von Fr. v. Holtzendorff. Stuttgart. (Spemann). 1885.
  2. Während die folgenden Seiten sich in erster Linie mit dem äußern Leben Lieber’s im Rahmen seiner Zeit beschäftigen, habe ich eine Characteristik seines wissenschaftlichen und litterarischen Wesens versucht in dem Aufsatz: „Bluntschli und Lieber“; in der Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft, Politik und Kulturgeschichte. Jahrg. 23 (1886) Bd. I. S. 60. ff.
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Hugo Preuß: Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten. Carl Habel, Berlin 1886, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Franz_Lieber_ein_B%C3%BCrger_zweier_Welten.pdf/9&oldid=- (Version vom 12.12.2022)