Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/58

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

und seinem Freunde in der Not wirklich von Nutzen sein. Des­halb hatte er sich in der nahen Kreisstadt einen funkelnagelneuen Revolver gekauft und pflegte sich regelmäßig dreiviertel Stunden im Schießen zu üben. Noch bin ich kein Pastor, sagte er sich, und somit ist mir dieses kriegerische Handwerk nicht versagt.

Die politischen Verhältnisse gestalteten sich indessen immer bedrohlicher. Ein kurländischer Baron war meuchlings erschossen worden, die Pastoren der benachbarten Pfarrämter klagten über anonyme Drohbriefe, die in maßlos erbitterten Ausdrücken gehalten waren. In einigen Kreisen hatten Wirte und Pächter ihre Zahlungen einfach eingestellt, Hofknechte verweigerten den Gehorsam, und nach und nach verbreiteten sich Schreckensgerüchte von Bränden und sengenden, plündernden Banden, die das Land durchzogen, viele Gutsbesitzersfamilien flüchteten in die Städte oder gar ins Ausland, und ihnen folgte das höhnende Triumphgeschrei der Aufwiegler.

In Kronenthal war es bisher ruhig geblieben. Ein erster Schnee hatte sich schmeichelnd wie ein weicher Flaum über die Felder gelegt, und der Föhrenwald leuchtete in glitzerndem Kleide.

Die Pastorin trat an diesem Tage in die Schulstube. „Fräulein Schenkendorff,“ sagte sie freundlich, „erlauben Sie mir, Ihren Unterricht für heute zu unterbrechen. Es ist ein so gottvolles Wetter, machen Sie einen Spaziergang mit Herrn Philippi, Sie sehen ganz müde und abgespannt aus. Ich will inzwischen mit Elschen und Marthchen einen Schneemann bauen.“

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/58&oldid=- (Version vom 31.7.2018)