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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

fuhr der alte Pastor fort, „aber ihr habt ihm eure Herzen geöffnet! Der Pastor, der Baron – ist ein Deutscher – und damit habt ihr geglaubt alles abzutun. Den Menschen dabei habt ihr vergessen. Ihr wolltet nicht hören, ihr wolltet eure Seelen nicht auftun dem Worte Gottes, das ,der Deutsche’ predigte, und ihr seid schnell gesunken, nur allzu schnell von Stufe zu Stufe. Gerechtigkeit und Glaube hat euch verlassen. Wie ein Schiff ohne Steuer treibt ihr dem Verderben entgegen. Freiheit ist eure Losung, Befreiung von der Knechtschaft der Deutschen’, – aber unfreier denn jemals seid ihr geworden, Knechte eurer Begierden, eurer Habsucht, eurer Rachsucht! Ihr seid wie Kain, der die Bruderhand gegen Abel erhob. Und darum klag’ ich euch an!“

Mit flammenden Augen stand der Pastor da – er hielt seine Hand weit ausgestreckt – und Darthe sah es mit Entsetzen – seine Finger wiesen in die Richtung, wo Grendsche-Jehkab war.

Die Gemeinde saß stumm und verwirrt. Auch die lautesten Schreier hielten die Köpfe gesenkt. Sie wagten kaum zu atmen.

„Kehrt um, solange es noch Zeit ist!“ sprach der Pastor dumpf nach einer schweren Pause.

Und nun verlas er den Text. Er hatte den Brudermord Kains gewählt.

Die Predigt war schlicht und ergreifend, aber wie ein Nachklang zu der erschütternden Einleitungsrede hallte sie an Darthens Sinnen vorüber.

Endlich verlas der Pastor die Geborenen, Verstorbenen

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/270&oldid=- (Version vom 1.8.2018)