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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Sie trug tiefe Trauer. Ein Streifen ihres abgekehrten Gesichts war von schneeiger Blässe.

Über der Gemeinde lagerte eine dumpfe erwartungsvolle Stille.

Gebückt und langsam trat der Pastor zum Altar. Er sah krank und verfallen aus und sprach die Liturgie mit hohler, zitternder Stimme.[WS 1]

Ein Flüstern ging durch die Reihen.

Dann wurde das zweite Kirchenlied gesungen. Es war ein Bußlied.

Endlich betrat der alte Mann die Kanzel.

Das sonst so milde, freundliche Gesicht war streng und düster. So hatte Darthe ihren Pastor nie gesehen. Die alten blauen Augen durchliefen forschend und zögernd die gedrängten Reihen.

Er beugte sein Haupt zum Gebet, und als er es wieder erhob, – da sah sie es wieder: das war nicht mehr der milde, väterliche Freund, – er war ein anderer geworden, ein Ankläger und Richter. „Gemeinde des Herrn!“ sagte er, nicht wie sonst „liebe Gemeinde“.

„In unserer Mitte ist eine furchtbare, schreckensvolle Tat geschehen. Eine feige Mörderhand hat unsern jungen Majoratsherrn, Baron Wolf von Wolfshausen, hinterrücks und heimtückisch erstochen. Dann hat der elende Mörder ihn, den wehrlosen, den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Stimmer
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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/268&oldid=- (Version vom 1.8.2018)