Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit | |
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breitete er die Flügel aus und flatterte auf eine kleine Tanne. Dann, als sei das Selbstgefühl in ihm erwacht, reckte er seinen Kopf, stieß ein heiseres Krächzen aus und flog mit starken ruhigen Flügelschlägen über den Fluß. Er war seinen Peinigern entkommen.
„Die Dohle, die Dohle!“ tönte es zornig und klagend aus drei Kehlen.
„Weshalb hast du sie fliegen lassen?“ fragte der kleine Baron wütend. „Das kommt davon, wenn man sich mit Mädchen einläßt!“
Stumm, mit niedergeschlagenen Augen und fest zusammen gepreßten Lippen stand Darthe und knitterte an ihrer Schürze.
„Haue sollst du kriegen!“ rief Grendsche-Jehkab und rüttelte sie derb.
„Komm, Jehkab, laß! Mädchen haut man nicht!“ entschied der Pastorssohn großmütig.
„Du hast sie mit Absicht fliegen lassen – pfui, wie gemein!“ sprach der kleine Baron im Tone tiefster Verachtung.
Grendsche-Jehkab stand blaß vor Wut beiseite und rührte sich nicht.
Willy fuhr in die Hosentasche und brachte ein Zehnkopekenstück hervor. „Da nimm, Jehkab,“ sagte er großartig, „für die Enttäuschung. Du läufst sehr brav.“
Nun wollte auch das Jungherrchen in der Großmut nicht zurückstehen. Aus einem zierlichen ledernen Portemonnaie zog er einen Zwanziger und reichte ihn Jehkab.
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/198&oldid=- (Version vom 1.8.2018)