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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

„Ja, ja,“ murmelte die Alte, „du wirst schon sehen, was dir geschieht!“

Leise streichelnd fuhr die runzlige Hand über das schreiende Kind, und immer schwächer und sanfter wurde das Weinen, endlich verstummte es ganz. Die kleine Faust fuhr in das Mündchen und eifrig begann das Kind daran zu lutschen. Zwei schwere dicke Tränen lagen anklagend auf den runden Bäckchen. Darthe stand noch immer steif und stumm neben der Großmutter.

Die Alte zog jetzt andere Saiten auf.

„Liebst du denn den Jahnit gar nicht, Darthing?“ fragte sie. „Es ist doch dein gutes Brüderchen, so’n liebes schönes Kind. Sein Brüderchen muß man doch lieben.“

„Ne!“ sagte Darthe und schüttelte unwirsch den Kopf. Die dunklen ungekämmten Haare fielen über die bräunliche Stirn, und eine böse Falte legte sich drohend darüber.

„Der Jahnit schläft nicht und immer krieg’ ich Prügel. Ich will an den Fluß – spielen!“

„Ui – ja!“ sagte die Alte. „Spielen willst du am Fluß? Dazu bist du nun viel zu groß – was hast du denn am Fluß zu suchen? Lauf nicht immer an den Fluß, sonst läuft er einmal nach dir und holt dich, und dann bist du kalt und tot.“

Wieder schüttelte das kleine Ding den Kopf. „Der Fluß ist gut,“ sagte sie, „besser als – als alle. Und holen kann er mich gar nicht.“

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/189&oldid=- (Version vom 1.8.2018)