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Walther Kabel: Eitel bis zum letzten Augenblick. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 208–211

Präsident des Gerichtshofs zur Entrüstung ganz Belgiens die so schwer Verdächtigte, die angeblich nur aus Mangel an überzeugenden Beweisen freigekommen war.

Inzwischen hatte sich der gleichfalls für unschuldig erklärte Baron Lesserac nach Amerika in Sicherheit gebracht. Von dort aus schrieb er, um sich für die Untreue der Geliebten zu rächen, an den Oberrichter Vernois, den neuen Gatten der Orleille, einen Brief, in dem er eingestand, selbst das Gift für die Mordtaten in Paris besorgt zu haben. Henriette Orleille habe die Reste der überaus giftigen Flüssigkeit im Garten ihres Hauses in seinem Beisein unter einem bestimmten Baume in einer Flasche vergraben. Der Oberrichter sagte niemand etwas von diesem Schreiben, sondern suchte zunächst an dem angegebenen Orte nach der Flasche, fand diese auch wirklich und stellte weiter fest, daß sie tatsächlich ein scharfes Gift enthielt. Nunmehr ließ er seine Frau, von deren wahren Charaktereigenschaften ihm schon die wenigen Monate seiner Ehe ein trauriges Bild gegeben hatten, aufs neue verhaften, und dieser zweite Prozeß endete dann auch mit der Verurteilung der fünffachen Giftmörderin Henriette Blanchard, verwitweten Orleille, verehelichten Vernois zum Tode.

Die kaum vierundzwanzigjährige Frau, die endlich ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte, zeigte nicht die geringste Reue über ihre Untaten. Ebensowenig schien sie den Tod zu fürchten. Nur ein Gedanke ließ ihr keine Ruhe: im Gefängnis hatte man ihr, der Verurteilten, jetzt alle die kostbaren Gewänder und die unzähligen Schminktuben und Büchschen fortgenommen, mit deren Hilfe sie ihrem Gesicht jeden gewünschten Ausdruck zu geben verstand. Sie mußte ein einfaches, grobes Leinenkleid tragen, und ihr Gesicht, dessen Haut schon vorher durch den steten Gebrauch kosmetischer Mittel verdorben war, hatte eine aschgraue Färbung angenommen. So war von der berühmten Schönheit nichts mehr übrig geblieben. Und dieses Bewußtsein, bei der öffentlichen Hinrichtung mit diesem Äußeren vor dem Volke erscheinen zu müssen, bereitete dem ebenso eitlen wie verbrecherischen Weibe schlaflose Nächte.

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Walther Kabel: Eitel bis zum letzten Augenblick. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 208–211. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eitel_bis_zum_letzten_Augenblick.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)