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Jonathan Swift übersetzt von Franz Kottenkamp: Ein sonderbarer Traum

flüsterte mir ins Ohr: Sie sei eine alte Jungfer und habe den besten Ruf in der ganzen Stadt. Das ist nichts Sonderbares, dachte ich, und war um so mehr überrascht, als ich nachher bemerkte, wie sie mit Mißtrauen und Bekümmerniß auf den Löwen zuging. Das Thier lag auf dem Boden; so wie es aber die Dame erblickte, beschnüffelte es dieselbe zwei oder dreimal, gab das Zeichen des augenblicklichen Todes und schritt sogleich zur Hinrichtung. Man hörte, wie die Dame inmitten ihres Todeskampfes die Worte: italienische Sänger mit dem äußersten Schauder und mehren wiederholten Verwünschungen aussprach; zuletzt starb sie mit dem Bekenntniß: Ich Thörin, daß ich so viel Vertrauen auf meine rauhe Haut gesetzt habe!

Der Wärter brachte darauf die Höhle für einen andern Kunden in Ordnung; dieser bestand in einer berüchtigten Spröden, welche von ihren Verwandten nach langer Ueberredung und vielen Drohungen bewogen war, ihre Hand einem jungen und schönen Goldschmied zu schenken, der auf ein dreimal größeres Vermögen, wie das ihrige, hätte Anspruch machen können; die Väter und Mütter der Nachbarschaft pflegten sie als ein Musterbild ihren Töchtern zu citiren; ihre Ellbogen schienen stets an ihre Seiten genietet, und ihre ganze äußere Person war in solcher Weise mit höchstem Anstand eingerichtet, daß einem jedem Kunde gegeben wurde, sie scheue jegliche fremde Berührung. Dem Löwen fürchtete sie nur deßhalb näher zu kommen, weil er männlichen Geschlechtes war; der Gedanke, ein männliches Thier dürfe sich heraus nehmen, sie anzuhauchen, erregte ihren Abscheu. Der Anblick eines Mannes bewirkte schon auf dreißig Ellen Entfernung, daß sie ihren Kopf wegwandte. Sie

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Jonathan Swift übersetzt von Franz Kottenkamp: Ein sonderbarer Traum. Scheible, Rieger & Sattler, Stuttgart 1844, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_sonderbarer_Traum-Swift-1844.djvu/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)