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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

182. 183. Die Sprachlaute nach ihrer Stärke. 71


zugestanden werden, dass es Sprachen gibt, welche stimmlose Laute verschiedener Stärke einander gegenüberstellen. Der Schweizer z. B. unterscheidet die Silben pa und da, ta und da durch stärkeren Druck beim p, t, schwächeren beim b, d, aber stimmlos sind beide Laute. Ebenso unterscheidet er z. B. genau ein starkes und ein schwaches stimmloses s, f, ch u. s. w. (z. B. in hafe: gaffe, jese: esse, tseche: tsechche, Winteler 20) unabhängig vom Accent oder der Stellung in der Silbe. Hier bleibt eben der Stärkeunterschied das einzige greifbare Unterscheidungsmerkmal, hier müssen die Ausdrücke Fortis und Lenis angewandt werden, wenn man den factisch bestehenden Unterschied der Laute charakterisiren will. Der Unterschied erweist sich aber auch sonst nützlich. So ist z. B. das deutsche anlautende s (wo es stimmlos gesprochen wird) meist eine Lenis im Vergleich zu dem gleichstehenden englischen s.

182. Auch auf die Laute, bei denen eine Schallbildung nur im Kehlkopf stattfindet (die Sonorlaute, 188 f.) kann natürlich das Princip der Scheidung nach der Stärke der Stimme ausgedehnt werden. Die Stimme erfährt aber durch blosse Steigerung nicht eine wesentliche qualitative Veränderung, während die Veränderung des Klanges bei den Geräuschlauten eine sehr wesentliche sein kann. Daher werden ‘sonore’ Fortes und Lenes wohl kaum in gegensätzlicher Verwendung gebraucht, ihr Wechsel hängt hauptsächlich von den verschiedenen Arten der Silbenbildung und des Accents ab. Vergleicht man Fälle wie alle: ahle, Amme: ahme, Amt: ahmt in der gewöhnlichen nord-, mittel- und süddeutschen Aussprache, oder noch besser etwa schweizerisches măne mahnen, măle mahlen mit deutschem Manne, falle, so wird man leicht erkennen, dass das den kurzen Vocal noch während eines Momentes voller Energie abschneidende ll, mm, nn an der Stärke des Vocals participirt, also Fortis ist im Vergleich mit dem l, m, n nach langem (in den angeführten măne, măle auch kurzem) Vocal mit schwachem Ausgang (589 ff.). Selbst bei stimmhaften Geräuschlauten (183) lässt sich gelegentlich eine solche Abstufung erkennen; wenigstens scheint mir, dass die stimmhaften s in norddeutschem dusseln oder engl. puzzle ein wenig stärker sind, als die von norddeutschem rieseln, engl. measles u. ä.

183. Man wird hiernach gut thun, auch abgesehen von dem Gegensatz von Lungendruck und Munddruck (s. 60), überall den Gegensatz von ‘Lautstärke’ und ‘Silbenstärke

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/91&oldid=- (Version vom 23.5.2022)