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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

50 127. Gesichtspunkte der Gruppirung.


vorliegenden Werkes vorwiegend sprachgeschichtliche Momente herbeigezogen werden müssen. Insbesondere hat in der Regel diejenige Varietät zur Grundlage der Definition gedient, welche sprachgeschichtlich als die Mutterform der übrigen gelten darf. So gibt es z. B., wie unten 312 ff. ausgeführt ist, zwei Arten von l-Lauten, deren eine bloss aus resonatorisch modificirter Stimme besteht, während die andere ein eigenes Mundgeräusch hat. Ebenso zeigt 500 f., dass es neben den spirantischen, d. h. auf Mundgeräuschbildung beruhenden Lauten wie ð, auch Formen ohne dieses Geräusch gibt, die also auch nur aus resonatorisch veränderter Stimme bestehen. Streng systematisch müssten beide Lautclassen vollkommen parallelisirt werden; sie werden aber hier absichtlich getrennt, weil man Grund hat anzunehmen, dass l mit Geräuschbildung innerhalb der indogermanischen Sprachen das Secundäre sind, während sich für ð, das Umgekehrte wahrscheinlich machen lässt. Doch ist hin und wieder anmerkungsweise auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auffassung hingewiesen.


5. Gesichtspunkte der Gruppirung.

127. Was nun endlich die leitenden Gesichtspunkte für diese gruppenweise Betrachtung der Sprachlaute betrifft, so ist zuvörderst die These Flodström’s, die Sprache könne theils als vernommen oder gehört, theils als hervorgebracht oder gesprochen betrachtet werden, dahin zu berichtigen, dass nächst der Art der Hervorbringung der Sprache bez. ihrer Elemente auch die Natur der hervorgebrachten Producte zu erforschen ist. Allerdings hängt die Natur der sprachlichen Producte von der Art ihrer Erzeugung ab, und ihre Betrachtung hat daher erst an zweiter Stelle zu geschehen. Aber es wäre mehr als willkürlich, wollte man darauf hin die Erörterung der Natur der Sprachlaute aus der Phonetik verbannen, oder ihr gar ein Recht auf Existenz absprechen. Denn nicht nur ist die Natur der producirten Sprachlaute oder -Elemente für die Lehre von der Bildung sprachlicher Complexe höherer Ordnung (namentlich die Lehre von der Silbenbildung) von der grössten Bedeutung, sondern es spielt auch die Verschiedenheit des Schallmaterials in der Entwicklungsgeschichte der Sprache eine wichtige Rolle. Wir werden also neben der Erörterung der einzelnen Factoren der Sprachbildung auch den akustischen Gesammtwerth der fertigen Laute ins Auge zu fassen haben, d. h. nicht sowohl die specifische Schallqualität (Klangfarbe) des einzelnen Liaautes, als gewisse durchgreifende Verschiedenheiten des zur Sprachbildung verwendeten Schallmaterials namentlich mit Bezug auf die 16 ff. behandelte Unterscheidung zwischen musikalischen Klängen und Geräuschen.


Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/70&oldid=- (Version vom 23.5.2022)